„Wir wollen den kürzesten Weg nach Europa“

■ Der Bürgermeister Tuzlas fordert eine UNO-Kontrolle des serbischen Korridors bei Brčko: So könne eine Verbindung zwischen Kroatien und der Stadt hergestellt werden

Selim Beślagić ist Bürgermeister des ostbosnischen Tuzla und Repräsentant einer Stadt, die von Parteien regiert wird, die sich nicht national definieren und damit an der Tradition des multikulturellen Bosniens festhalten. Es handelt sich um Reformisten, um Sozialisten, Liberale und Sozialdemokraten.

taz: Der Bürgermeister von Goražde hat fast schon zu spät einen dramatischen Aufruf in die Welt geschickt, um die UNO und die Nato zur Aktion zu bewegen. Jetzt marschieren die serbischen Truppen in Brčko, in Ihrer Region, auf. Was gedenken Sie zu tun?

Selim Beślagić: Der Krieg um Brčko hat schon vor zwei Wochen begonnen. Im Vergleich zu Goražde ist Tuzla jedoch in einer anderen Situation, denn wir haben niemals darauf vertrauen müssen, daß uns jemand zu Hilfe kommt. Außerdem scheinen die Bedingungen für die Verteidigung Tuzlas seit dem Washingtoner Abkommen zwischen Bosnien und Kroatien besser geworden. Wir werden uns selbst verteidigen. Hier in der Region Tuzla sind zudem Unprofor-Truppen stationiert, in die wir Vertrauen haben können, weil sie aus den nordischen Ländern kommen, aus den Niederlanden, aus Norwegen und Schweden. Soweit ich die Kommandeure kenne, sind es honorige Leute, die gemäß ihres Auftrages handeln und auch die Informationen über die Entwicklungen hier korrekt wiedergeben.

Klingt da nicht Kritik an dem britischen General Michael Rose durch, der ja immer noch Kommandant der UNO-Truppen in Bosnien ist? Er hat die Verteidiger Goraždes als Feiglinge hingestellt.

Es fällt mir nicht leicht, die Äußerungen von Herrn Rose zu kommentieren. Er hätte immerhin bedenken sollen, daß Goražde über sechs Monate lang absolut abgeschlossen war und nicht einmal mit Munition für die wenigen Waffen versorgt werden konnte. Wer ein Waffenembargo gegenüber unserer Armee durchsetzt mit dem Argument, man werde die UNO- Schutzzonen schützen, dann aber nichts tut, sollte mit solchen Äußerungen vorsichtiger sein.

Gibt es Widersprüche innerhalb der UNO-Truppen, die sich für Tuzla positiv auswirken könnten?

Mit Goražde ist in jedem Fall ein Wendepunkt eingetreten. Denn jetzt kann die Unprofor nicht mehr so leicht lavieren, die UNO-Truppen müssen deutlich machen, was sie wollen. Entweder unterstützen sie offen die serbische Seite, oder aber sie handeln gemäß dem UNO-Mandat.

Darauf können Sie sich aber nicht verlassen. Immerhin hat kürzlich der Senat der USA die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber Bosnien gefordert, Präsident Clinton zögert aber weiterhin, eine Entscheidung zu treffen. Werden wenigstens die Kroaten nach dem Washingtoner Abkommen Ihnen zur Seite stehen?

Wir brauchen keine kroatischen Soldaten, wir wollen lediglich, daß die Föderation zu funktionieren beginnt. Dann könnte endlich der Hunger in unserer Region beseitigt werden. Außerdem könnte sich unsere Armee umgruppieren und sich auf die Verteidigung gegenüber den Karadžić-Truppen konzentrieren. Es sollten in Zukunft nicht nur die Lebensmittel der Hilfsorganisationen ohne Schwierigkeiten die kroatisch kontrollierte Westherzegowina passieren dürfen; wir wollen, daß die Freizügigkeit grundsätzlich wieder hergestellt wird. Die Aktivitäten der Truppen des Kroatischen Verteidigungsrates HVO östlich des serbisch besetzten Korridors bei Brčko sind mit denen des II. Korpus unserer Armee koordiniert. Das ist ein Fortschritt.

Wenn die Vereinten Nationen ernsthaft vorhätten, den Kampf um Brčko zu verhindern, müßten sie doch eigentlich darauf drängen, den serbisch besetzten Korridor unter ihre Kontrolle zu bekommen. Dann könnte sowohl die von den Serben gewünschte Verbindung zwischen Belgrad und Banja Luka aufrechterhalten wie auch eine Verbindung zwischen Kroatien und Tuzla hergestellt werden.

Das schlagen wir der UNO schon seit fast zwei Jahren vor, aber dieser Vorschlag wurde abgelehnt. Natürlich hat die Kontrolle über den Korridor für Karadžić Priorität, schließlich werden über ihn Waffen und Soldaten nach Banja Luka und nach Knin geschleust. Das Ziel einer serbischen Offensive ist es ja, den Korridor jetzt zu erweitern. Wir hingegen wollen den kürzesten Weg nach Europa. Mit einem UNO-Korridor wäre Zagreb nur noch vier Autostunden entfernt, und wir könnten uns selbst versorgen. Wir würden nicht mehr nur am Tropf der internationalen Hilfsorganisationen hängen, wir könnten Rohstoffe für unsere Industrie einführen und wieder an die Arbeit gehen. Interview: Erich Rathfelder