Essen als deutsch-deutsches Problem

■ Seit der Wende nimmt die Zahl von Eßgestörten besonders in Ostdeutschland zu / Magersucht, Bulimie und Eßsucht sind Reaktionen auf gesellschaftliche Zwänge / Es fehlt an ambulanten Einrichtungen

Erfolgreich im Beruf, dabei fürsorgliche Mutter und Partnerin und vor allem schlank – das ist noch immer das Idealbild der Frau in unserer Gesellschaft. Falls es mit der schlanken Figur nicht klappt, müssen Diäten her. Immer mehr Frauen reagieren auf die einander widersprechenden Erwartungen mit Eßstörungen. Statt zu essen, wenn ihr Körper ihnen Hunger signalisiert, und aufzuhören, wenn sie satt sind, benutzen sie das Essen, um Konflikte zu bewältigen und sich den gesellschaftlichen Normen zu verweigern. Ein Teufelskreis aus Hungern, Freßanfällen, Schuldgefühlen, Diät-Halten und wieder Fressen bestimmt das Leben von Eßgestörten.

Drei Formen von Eßstörungen lassen sich unterscheiden – wobei die Übergänge fließend sind. Am bekanntesten ist die Magersucht. Die meist jungen Mädchen verweigern das Essen aus panischer Angst, zuzunehmen, und hungern sich dabei nicht selten regelrecht zu Tode. Das Hungern wird zur Sucht und verhindert die Ausbildung weiblicher Körperformen. Mit der Nahrung verweigern die Magersüchtigen gewissermaßen die ihnen aufgezwungene Geschlechtsidentität.

Seit Anfang der 80er Jahre richtet sich die Aufmerksamkeit aber auch zunehmend auf die Eß- Brech-Sucht, die Bulimie. Die Betroffenen, in der überwiegenden Mehrzahl Frauen, schwanken zwischen Fasten und heimlichen Freßanfällen, in deren Verlauf sie wahllos riesige Mengen von Nahrung in sich hineinstopfen, um sich danach den Finger in den Hals zu stecken. Hinter der Fassade der perfekten, erfolgreichen Frau, die meist normalgewichtig ist, verbirgt sich eine gespaltene Persönlichkeit: Einerseits will sie den Idealvorstellungen der Gesellschaft entsprechen, andererseits verbirgt sich ein dunkler Teil in ihr, der sie dazu drängt, der Gier nach Essen nachzugeben. Während Magersüchtigen oft mit einer Mischung von Mitleid und Faszination begegnet wird, stoßen Bulimikerinnen nicht selten auf Abscheu und Unverständnis. Eine Frau, die sich mit Essen vollstopft und es danach wieder auskotzt, während in der Dritten Welt Kinder verhungern?

Noch weniger ernst genommen werden die Eßsüchtigen – eine Störung, von der auch Männer betroffen sind. Essen wird für sie zum Ersatz für andere Bedürfnisse und Gefühle. Essen statt leben – so könnte man die Problematik der Eßsüchtigen auf einen Nenner bringen. Dem Symptom Eßstörung kommt dabei eine wichtige Schutzfunktion zu. Konflikte werden durch das zwanghafte Essen beiseitegeschoben, schmerzliche Empfindungen betäubt. Gemeinsam ist allen drei Arten der Eßstörung, daß die Gedanken nur noch um das Essen bzw. Nicht-Essen kreisen.

Daß Eßstörungen Krankheiten der westlichen Industriegesellschaften sind – in Afrika oder Asien sind sie so gut wie unbekannt –, deutet darauf hin, daß soziokulturelle Faktoren eine große Rolle spielen. Ein Anliegen des Arbeitstreffens „Eß-Störungen – ein deutsch-deutsches Thema“, das vor zwei Wochen in Berlin stattfand, war daher, die gesellschaftlichen Ursachen in den Vordergrund zu stellen. Bislang dominierten psychoanalytische Ansätze in der Forschung. Experten und Betroffene aus den alten und neuen Bundesländern diskutierten auf der vom Beratungszentrum „Dick & Dünn e.V.“ organisierten Tagung über ihre Erfahrungen.

Sylvia Baeck, die den Verein mit aufgebaut hat, berichtet von einer drastischen Zunahme von Hilfesuchenden in den letzten Jahren. Vor allem in den neuen Bundesländern hat die Zahl der an Eßstörungen Erkrankten seit der Wende sprunghaft zugenommen. Margit Venner von der Universitätsklinik Jena belegte am Beispiel der DDR geradezu exemplarisch, wie stark gesellschaftliche Veränderungen das Enstehen dieser Krankheit beeinflussen. Entscheidend, so Frau Venner, sei dabei der tiefgreifende Wandel im gesellschaftlichen Leitbild der Frau: „Für die Frauen in der DDR war es selbstverständlich, einen Beruf und Kinder zu haben. In der Bundesrepublik gerät dieses Lebensmodell zu einem Eiertanz.“ Auch Schlankheitswahn und Diät-Terror lernten die DDR- Frauen erst nach der Wende kennen. Auf diese Veränderungen wie auch auf die erschwerten Lebensbedingungen reagierten viele Frauen und Mädchen mit Eßstörungen.

Darin zeigt sich, daß diese Krankheiten auch ein Versuch der Lebensbewältigung sind – oder, wie es die Sozialwissenschaftlerin Petra Focks ausdrückt: „Eßstörungen sind als individuelle Verarbeitungsmechanismen kollektiver Bedingungen unserer Gesellschaft zu begreifen.“ Ob jemand diese „Sprache“ wählt oder ob eine andere Krankheit zum Ausbruch kommt, sei von individuellen Faktoren abhängig, meinte Focks.

Noch fehlen in den neuen Bundesländern ambulante Einrichtungen, die eßgestörte PatientInnen therapeutisch betreuen könnten. Und es mangelt an medizinischer Fachkompetenz, Eßstörungen als psychosomatische Erkrankung mit Suchtcharakter zu erkennen. Die Rolle, die die Medizin bei der Behandlung solcher Patientinnen spielt, ist aber auch in den alten Bundesländern nicht gerade rühmlich. Auch hier tun sich die Ärzte noch schwer, PatientInnen mit Symptomen einer Eßstörung an psychosomatische Kliniken oder an TherapeutInnen zu überweisen. Es waren und sind vor allem die Selbsthilfegruppen und der Verein „Dick & Dünn“, die bei der Ärzteschaft und bei den Krankenkassen Druck machen und in mühsamer Kleinarbeit die Öffentlichkeit über die Krankheit aufklären.

Besonders für Eßsüchtige ist das therapeutische Angebot dürftig, zumal sich bei der Frage, welche Therapie am besten geeignet ist, die Geister scheiden: Sich oft wiegen oder gar nicht, einen Diätplan entwerfen oder einfach essen lassen, was das Herz begehrt, Gewichtsabnahme oder das Akzeptieren des eigenen Körpers als Ziel der Behandlung – über diese Gegensätze wurde auch auf der Tagung heftig diskutiert.

Eßsüchtigen sei nicht mit der x- ten Diät geholfen, betont Sylvia Baeck. Sie müßten vielmehr lernen, ihre Gefühle – Wut, Einsamkeit oder Leere – nicht mehr mit einer Tafel Schokolade runterzuschlucken. Und sie müßten lernen, ihren Körper anzunehmen – auch wenn der anders aussieht als die schlanken Vorbilder in der Werbung. Birgit Leiss