Die Rückkehr der Menschenfresser

Haitis BewohnerInnen leben wieder in Angst und Schrecken. Eine Regierung gibt es nicht, dafür herrschen die „Attachés“, paramilitärische Banden der Neo-Duvalieristen  ■ Aus Port-au-Prince Werner Hörtner

Haiti beginnt bereits im Nachbarstaat Dominikanische Republik, dem spanisch kolonisierten Ostteil jener Insel Hispaniola, auf der Kolumbus seine ersten Stützpunkte in der „Neuen Welt“ errichtete: in den Bateyes – den Ansiedlungen der haitianischen Zuckerrohrarbeiter und ihrer Familien –, in der Hauptstadt Santo Domingo, in vielen Kleinstädten verstreut über das ganze Land. Hunderttausende HaitianerInnen leben hier, teilweise schon seit Jahrzehnten oder seit Generationen. Viele von ihnen besitzen immer noch keine Dokumente, sind ohne Staatsbürgerschaft und somit ohne Zugang zu Erziehungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung.

Auf einem Seminar dominikanisch-haitianischer Frauen in Santo Domingo der erste direkte Kontakt mit der heutigen Realität Haitis. Eine Delegierte einer haitianischen Frauenorganisation berichtet vom Leben unter dem Stiefel der Militärdiktatur, die sie in berührender Bildhaftigkeit als „Régime sans mère“, als mutterloses Regime, bezeichnet. Sie erzählt vom Terror gegen AnhängerInnen des exilierten Präsidenten Jean- Bertrand Aristide, von der Flucht von Hunderttausenden Menschen aus ihren Wohngebieten, von der gewaltsamen Erniedrigung und sozialen Benachteiligung der Frauen. Die anwesenden Frauen und Delegierte aus den Bateyes zitieren auswendig Paragraphen der UN- Menschenrechtserklärung.

Der Salesianerpriester und Befreiungstheologe Aristide hatte im Dezember 1990 mit einer satten Zweidrittelmehrheit die ersten freien Wahlen Haitis seit Jahrzehnten gewonnen. Der wegen seiner in die Praxis umgesetzten „Option für die Armen“ beim Vatikan und in der haitianischen Hierarchie äußerst unbeliebte Priester verkörperte für die überwiegende Mehrheit der HaitianerInnen die Hoffnung auf ein besseres, ein menschenwürdiges, ein angstfreies Leben. Doch die Hoffnung währte nicht lange: Nach knapp achtmonatiger Amtszeit, am 30. September 1991, stürzten die Militärs den Volkspräsidenten – im Auftrag der nationalen Bourgeoisie, die um den Verlust ihrer ertragreichen Vormachtstellung fürchtete, in Zusammenarbeit mit der CIA und zumindest mit dem Wohlwollen des Vatikans. In Haiti munkelt man auch von einer direkten Beteiligung des Kirchenstaates am Putsch.

„Wenn Aristide nicht schnell zurückkommt, werden wir hier alle verhungern“, beklagt ein Bewohner von Cité Soleil die exorbitanten Preissteigerungen seit Verhängung des UN-Embargos gegen Haiti. Im Stadtteil Cité Soleil, der „Sonnenstadt“, lebt etwa ein Viertel der knapp zwei Millionen EinwohnerInnen der Hauptstadt Port- au-Prince. Eine Wellblechhütte nach der anderen. In dieser Stadt der Ärmsten der Armen hatte und hat Präsident Aristide eine fast hundertprozentige Anhängerschaft. Die Menschen warten auf die Rückkehr ihres „Titid“, wie sie ihn liebevoll nennen, wie auf die Ankunft des Messias. Sie müssen die Treue zu „ihrem“ Präsidenten heute teuer bezahlen.

„Gegen 8 Uhr morgens kamen etwa 250 Leute von der FRAPH, mit Gewehren und Macheten bewaffnet. Sie haben auf die Leute geschossen, Benzin in die Hütten geschüttet und sie angezündet. Gegen Mittag sind sie wieder abgezogen, zurück blieben Dutzende abgebrannte Hütten und Tote“, berichtet ein Bewohner von Cité Soleil.

Hätte er gegenüber den Angreifern nicht beteuert, kein Anhänger von Aristide zu sein, wäre er wohl wie viele andere standrechtlich erschossen worden. Seine Hütte wurde dennoch abgefackelt. Der Überfall ging auf das Konto der „Attachés“, einer Art Neuauflage der „Tontons Macoutes“ – jener „Menschenfresser“, die zu Zeiten der Duvalier-Diktatur für Angst und Schrecken sorgten. Die Attachés verrichten heute die Schmutzarbeit der tagtäglichen Unterdrückung und Einschüchterung, die das Militär selbst nicht durchführen will. Organisiert werden diese paramilitärischen Gruppen von der FRAPH, der nach dem Staatsstreich entstandenen Putschistenpartei namens „Front für den Fortschritt Haitis“.

Trotz Chaos funktioniert das Spitzelsystem

Auch in anderen Stadtteilen von Port-au-Prince hört man jede Nacht Schüsse: Die Attachés machen Jagd auf Aristide-Sympathisanten. Trotz des institutionellen Chaos im Land funktioniert das Spitzelsystem der Putschisten einigermaßen. Heute traut sich niemand in Haiti, öffentlich für die Rückkehr des Staatspräsidenten einzutreten. Die wenigen noch amtierenden oder sich noch in Haiti aufhaltenden Minister des im Dezember abgetretenen Ministerpräsidenten Robert Malval haben beschlossen, keine öffentlichen Erklärungen abzugeben und auch keine Journalisten zu empfangen. Selbst Vertreter der haitianischen Menschenrechtsbewegung fürchten sich, konkrete Anschuldigungen gegen namentlich genannte Personen zu erheben. Verständlich, denn seit dem Putsch wurden mindestens dreitausend Personen ermordet – Aristide spricht sogar von über fünftausend; über die Zahl der Verschwundenen existieren keine verläßlichen Angaben. Politische Gefangene gibt es hingegen keine in Haiti: Oppositionellen gelingt es entweder unterzutauchen, oder sie fallen den Kugeln der Attachés zum Opfer.

Wer Haiti derzeit regiert, kann niemand sagen: der Präsident ist im Exil, der Ministerpräsident zurückgetreten, die meisten Mitglieder des Kabinetts sind im Ausland. Justizminister Guy Malary wurde auf offener Straße erschossen. Wer herrscht, ist hingegen leichter zu beantworten: die Putschistenführer Raoul Cédras, Oberkommandierender der Armee, und Michel François, Polizeichef von Port-au- Prince, mit Hilfe der „Basisarbeit“ der Attachés. Sie sind es auch, die – zusammen mit den Aristide-Gegnern im nationalen Bürgertum – eine Rückkehr des populären Präsidenten am meisten fürchten: Ein Ausbruch des aufgestauten Volkszorns in gewalttätigen Vergeltungsaktionen wäre dann wahrscheinlich.

Im Unterschied zu den Todesschwadronen in anderen lateinamerikanischen Staaten organisieren sich die paramilitärischen Gruppen in Haiti ohne Versteckspiel. Ihre Mitglieder erhalten einen von FRAPH-Führer Benjamin Constant unterzeichneten Ausweis, der sie praktisch zu allen Gewalttaten legitimiert. Sie waren es auch, die im vergangenen Oktober ein erstes Kontingent einer US-Einsatztruppe zur ruhmlosen Rückkehr zwangen.

Haitis Hauptstadt ist immer noch ein einziger Marktplatz und voller Menschen, doch ist der Umfang des Warenaustausches stark zurückgegangen. Beim Anblick der leeren Geschäfte beginnt man am Sinn des Embargos und der von Aristide geforderten Totalblockade zu zweifeln. „Vor dem Embargo kostete ein Pfund Reis 30 Cents, heute sind es 80!“ (etwa 1,15 DM), empört sich ein Gesprächspartner und zählt die jüngsten Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln auf. Eine andere Folge des Embargos ist die Schließung zahlreicher Industriebetriebe und die Einführung von Teilzeitarbeit in vielen Ämtern und Büros bei entsprechend verringertem Einkommen. Auch viele Schulen haben sich auf Schichtunterricht an drei Wochentagen umgestellt. Durch die Regelung sollen den Kindern und ihren Familien die Kosten des täglichen Schulbesuchs erspart werden.

Unterernährung aufgrund des UN-Embargos

In einem mit ausländischen Geldern finanzierten Kinderkrankenhaus in Pétionsville, einem Vorort von Port-au-Prince, sind die Folgen der katastrophalen Versorgungslage beklemmend sichtbar. Die neunzig Betten sind permanent belegt, an die dreißig Kinder werden täglich ambulant behandelt. Allgemeine Krankheitsursache ist Mangel- und Unterernährung. Auch die Fälle von HIV-infizierten Kleinkindern nehmen zu. Ebenso die Zahl der Kinder, die im Krankenhaus sterben, weil sie zu spät eingeliefert wurden. Nach einer im letzten November veröffentlichten Studie der US-amerikanischen Harvard-Universität ist seit Verhängung des Embargos die Sterberate bei Kindern unter fünf Jahren von dreitausend auf viertausend monatlich gestiegen.

Während sich einige wohlhabende Kaufleute und Zwischenhändler sowie schmuggelnde Militärs am Embargo weiter bereichern, lebt die Bevölkerungsmehrheit in zunehmender Not und Verzweiflung. Nach dem Sonnenuntergang liegt die Hauptstadt im Dunkeln – die Stromversorgung ist völlig zusammengebrochen, und nur wenige haben das Geld, sich Treibstoff für einen Generator zu besorgen. Der Preis für Benzin kletterte in den letzten Monaten auf fast 2 US-Dollar pro Liter – mit entsprechender Auswirkung auf die Bus- und Lebensmittelpreise.