■ Kanzler Kohl blickt in die Vergangenheit
: Spurenverwischung

Wenn der Kanzler die Geschichte ins Spiel bringt, ist unsereins ja schon gewohnt, die Ohren zu spitzen. Immerhin ist der Mann, der einst Gorbatschow mit Goebbels verglich und in Bitburg der SS-Schergen und der Opfer ihrer Herrschaft gleichermaßen gedachte, von Hause aus Historiker, was uns nahelegt, seine Sätze nicht vorschnell als unüberlegte Äußerungen abzutun. „Wir haben uns vieles gegenseitig angetan“, erklärte Kohl auf der Pressekonferenz mit Jelzin vom Mittwoch mit Blick auf die deutsch-russische Vergangenheit. Gewiß, der Satz stimmt. Er entspricht der Wahrheit. Russische Soldaten haben deutsche Frauen vergewaltigt, deutsche Soldaten und Zivilisten in Massen verschleppt, den Ruf der Ostdeutschen nach mehr Freiheit 1953 mit Panzern beantwortet und einen Teil Deutschlands 40 Jahre lang besetzt oder zumindest im eisernen Griff gehalten. Was sind dagegen schon die 25 Millionen toten Sowjetbürger, die Hitlers Überfall auf Stalins Reich gekostet hat, oder Tausende von zerstörten Dörfern in Weißrußland, der Ukraine und Rußland, oder Hunderttausende verschleppter Zwangsarbeiter? Nein, wir wollen nicht aufrechnen. Jeder Tote ist schließlich ein Toter zuviel. Jede Vergewaltigung ist ein Verbrechen, keine Verschleppung völkerrechtlich gedeckt.

Den vom Tod unmittelbar Bedrohten mögen die Zusammenhänge, deren Opfer er wird, nicht interessieren. Er will überleben. Der vergewaltigten Frau mag egal sein, wer den Krieg vom Zaun gebrochen hat, dem Verschleppten schnuppe, welche Verbrechen andere begangen haben. Aus der Perspektive des individuellen Opfers ist die Schuldfrage eben oft ohne Belang. Doch wenn der mit später Geburt begnadete, deshalb unschuldige, aber – um mit Ralph Giordano zu sprechen – eben schuldbeladene Kanzler über die Vergangenheit redet, ohne Ursachen und Folgen zu benennen, ist das eine ganz andere Sache. Auch wenn die Folgen nicht zwangsläufig sind und nicht per se zu rechtfertigen, so sind es eben doch Folgen. Deshalb verheimlicht der wahre Satz letztlich nur die offenbar immer noch unbequeme Wahrheit.

Man mag einwenden, der Satz treffe eben trotzdem die Stimmung: Versöhnung ist angesagt. Alte Wunden sollen nicht aufgerissen werden. Was geschehen ist, ist geschehen. Das Bonner Zeremoniell und die zelebrierte Freundschaft legen in der Tat nahe, daß die beiden Staatsmänner bereit sind, eine alte Feindschaft endgültig zu begraben. Doch das schäbige deutsche Theater um die Verabschiedung der letzten Soldaten der einst siegreichen Roten Armee straft solch naive Annahmen Lügen. Zumindest für Kohl ist die eine Seite der Vergangenheit eben noch längst nicht vergangen. Und in diesem Licht besehen, hört sich sein Satz wie eine Begründung für den zweitklassigen Abschied an, den man den letztlich doch ungeliebten Russen anbietet. Thomas Schmid