Zwischen billigen Ermahnungen und vagen Zusagen

■ Bonns Außenpolitik scheitert an der Ausarbeitung einer konsistenten Rußlandpolitik

In Boris Jelzins soeben erschienenen Tagebuchnotizen „Auf des Messers Schneide“ erfährt der Leser: „Wenn ich ihn ,meinen Freund Helmut‘ nenne, dann ist das keine familiäre Vertraulichkeit.“ Aber die neue Männerfreundschaft, der unser Bundeskanzler teilhaftig wurde, ist auch kein kumpelhaftes Ritual. Kohl schwitzte an Jelzins Seite im Dampfbad, das verbindet. Dem russischen Präsidenten hat unser Bundeskanzler bei einem intimen Rencontre dieser Art versichert, Deutschland und die westlichen Staaten würden an seiner Seite stehen, falls es mit Ruzkoi und Chasbulatow hart auf hart ginge. Genau so geschah's und das verbindet noch mehr, wenn es auch mit dem Völkerrechtssatz von der „Nichteinmischung“ wenig zu tun hat. Um Einmischung geht es tatsächlich, fragt sich nur, um welche.

Die Beziehungen Rußlands zu Deutschland sind von dichten Gemütswolken umgeben. Wenn es stimmt, daß die Zahl der wechselseitig im Gebrauch befindlichen Stereotypen nicht etwa die Entfernung, sondern die Nähe zweier Völker ausdrückt, dann sind die Beziehungen zwischen Russen und Deutschen in der Tat sehr eng. Die Deutschen gelten den Russen als fleißig, erfindungsreich, phantasielos, stocknüchtern, geizig und rechthaberisch. Die Russen sind den Deutschen Überströmend herzlich, gastfreundlich, grausam, unberechenbar, ingeniös, stinkend faul und unordentlich. Ein System idealer Ergänzungen, allerdings nur in der Phantasie wirksam. Bis in die sechziger Jahre gab es in Deutschland Ideologen und Politiker, die Russen und Deutsche im Namen eines kulturell-sozialen Sonderwegs zusammenbringen wollten – im Namen einer gegen den „seelenlosen“ westlichen Individualismus rebellierenden Gemeinschaftsideologie. Diese in Rußland nach wie vor (und nicht nur bei durchgeknallten „Großrussen“) virulente Geisteshaltung hat in Deutschland heute kaum noch Anhänger. Das könnte sich ändern, wenn im Zeichen „nationaler Identitätsfindung“ die Schubkraft des Projekts Europäische Union verblaßt. Die Sorgen der ostmitteleuropäischen wie der westlichen Nachbarn Deutschlands vor einem „neuen Rapallo“, einer gegen die westlichen Demokratien gerichteten Sonderbeziehung, mögen heute lächerlich erscheinen – vor einer rückwärts wie vorwärts verlängerten geschichtlichen Perspektive sind sie es nicht.

Das vereinte Deutschland und die russische Föderation sind neue Staaten. Beide sind von ihren inneren Schwierigkeiten okkupiert, beide unterliegen dem, was der bedeutende deutsche Historiker Eckart Kehr das „Primat der Innenpolitik“ genannt hat. Die Regierungen Rußlands wie Deutschlands sind nicht in der Lage, konsistente, auf Dauer berechnete Aussagen über ihr künftiges, gegenseitiges Verhältnis zu formulieren. Nach einer hundertprozentig proamerikanischen Politik ist die russische Regierung 1993 auf eine außenpolitische Doktrin umgeschwenkt, die die Hegemonie Rußlands über das „nahe Ausland“ (die ehemaligen Sowjetrepubliken minus Baltikum) festschreibt. Sie soll die Zone des „vitalen Interesses“ bilden. Aber auch für Ostmitteleuropa werden „legitime Sicherheitsinteressen“ eingeklagt. Diese Doktrin, der sich auch viele ehemalige „Westler“ verschrieben haben, ist die Reaktion auf das Scheitern hochfliegender Pläne, die auf eine rasche Integration Rußlands in das westliche Gesellschafts- und Staatensystem gesetzt hatten. Aufgabe der deutschen Außenpolitik wäre es gewesen, das russische Rückzugs- und Abwehrsyndrom aufzulösen und präzise Vorstellungen zu entwickeln, wie und in welchen Schritten Rußland mit dem westlichen Europa verbunden werden kann. Die bisherigen Angebote – die KSZE in der jetzigen Form, der Nato-Kooperationsrat, Europarat – sind gänzlich unzureichend.

Keine leichte Aufgabe, denn gleichzeitig wäre es darum gegangen, der russischen Machtelite verständlich zu machen, daß die Aufnahme der ostmitteleuropäischen Staaten in die Europäische Union mit der russisch-westeuropäischen Annäherung nicht synchronisiert werden kann. Die beiden Prozesse werden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit verlaufen. Desto wichtiger wäre Klarheit über das gesamte Angebot gewesen. Die Bundesrepublik hat es unterlassen, der russischen Regierung ein Angebot zu machen, die es dieser gestatten könnte, den Verlust des „strategischen Vorfelds“ Osteuropa als zwar schmerzlich, aber letztlich nicht entscheidend anzusehen. Wenn man tatsächlich, wie Kinkel, mit der Kritik des demokratischen Publizisten Anatoli Tschernajew übereinstimmt, wonach „wahre Größe nur darin bestehen kann, durch unablässige Arbeit das Wohl des Volkes zu erhöhen und seinen Sinn für spirituelle Werte zu stärken“, dann muß man auch materiell dafür eintreten, daß dieses Ziel erreicht wird. Der Hinweis auf die leeren Taschen und die hervorragende Zahlungsmoral der Deutschen ist nur das Tüpfelchen auf dem i der deutschen Phantasielosigkeit.

Bleibt die gesellschaftliche Sphäre, das Reich der „Volksdiplomatie der Bürger“ (Lew Kopelew). Hier ist in den vergangenen vier Jahren ein vielversprechender Neuanfang gemacht worden. Die demokratische Öffentlichkeit bei uns sollte sich allerdings vor der Mentalität des Schlußstrichs hüten. Nicht überall haben die Menschen ein so schlechtes Gedächtnis wie in Deutschland. Äußerungen wie die des Bundeskanzlers „Wir haben uns vieles gegenseitig angetan“ begründen eine Symmetrie des Verbrechens, die vor der historischen Wahrheit keinen Bestand hat und deshalb auch keine positiven Wirkungen in die Zukunft entfalten kann. Erst dieser Tage hat der Historiker Hans Mommsen auf den Massenmord an russischen Kriegsgefangenen hingewiesen, der aus dem Bewußtsein der Deutschen wie zerniert ist. Wenn es schon eine „spezielle Beziehung“ geben sollte, dann die, die durch das Leiden der RussInnen in zwei Kriegen, die wir begonnen haben, verursacht wurde. Christian Semler