Kein Leid, keine Tiefgründelei

■ Victoria Haukes neues Tanztheater „Shift“ hatte Premiere im Rahmen der „Jungen Hunde“ auf Kampnagel

Was für eine rasante Entwicklung! Gerade fünf Monate ist es her, da zeigte Victoria Hauke ihre letzte Produktion Cocon ohne Sofa im Goldbekhaus. Schon damals, im Januar, funkelte ihr tänzerisches Können, und die Musikbegleitung sprühte vor Witz und Selbstironie. Aber ihr Tanztheater wollte noch darstellen: menschliche Isolation, Kritik an den Verheißungen der Werbung und der Rückzug in Innenwelten waren ihre Themen. Die junge Tänzerin und Choreografin Victoria Hauke hatte zusammen mit dem Tanztheater dessen Eierschalen aus den 70er Jahren entdeckt.

Und jetzt, im Mai 1994, kein halbes Jahr später, ist sie bereits in den 80er Jahren angekommen. Ihre neue Produktion Shift, die im Rahmen des Junge Hunde-Festivals am Donnerstag auf Kampnagel Premiere feierte, versteckt sich nicht mehr hinter Aussagen. Victoria Hauke und ihre auf drei Musiker, zwei Mittänzerinnen und einen Mittänzer angewachsene Gruppe interpretieren hier Tanztheater als Möglichkeitsraum.

Unbeschwert, doch mit allem Ernst führen sie Fragmente aus dem in die Freiheit entlassenen Reich der Bewegungen und der Töne vor. Es gibt keine Regeln, alles ist möglich. Man kann nur darüber staunen, was die Truppe mit dieser Maxime alles anfängt. Neben Claus Vogel an den Keyboards und dem Percussionisten Conny Sommer spielt Dieter Gostischa auf einem indischen Instrument. Zusammen mit Victoria Hauke tanzen Maria Fütterer, Norbert Kliesch und Manuela Treinis mal zu viert, mal allein, mal paarweise.

Da gibt es pathetische Soli und ironische Brechungen, dramatische Lichtwechsel und abrupte Rhythmusänderungen. Manchmal meint man, entrückte Traumbilder zu sehen. Dann reißt einen wieder die Präsenz der Bewegungen mit. Und dazwischen experimentiert die Gruppe noch mit Metallplatten, Seilen und dem Rhönrad, einem riesigen, aus Stahlrohren bestehenden Laufrad mit Verstrebungen, das neue Möglichkeiten der Bewegung geradezu fordert.

Kurz: In Shift ist alles drin, was knallt. Und nichts paßt in ein schon bekanntes Schema. Alles andere als ein großes Lob wäre fehl am Platz: Shift zeigt Tanztheater, das nicht tiefgründelt und nicht leidet, sondern das Bewegungsfolgen und Töne sucht, findet und feiert. Kleinere Unelegantheiten gerade in den Übergängen der einzelnen Szenen nimmt man dabei gern in Kauf.

Wie wird es weitergehen? Wenn die Gruppe, die sich um Victoria Hauke gebildet hat, diese Experimentier-Lust beibehält, überspringt sie glatt die 90er und landet in sechs Monaten im Jahr 2000.

Dirk Knipphals

Kampnagel, Halle 2, 20 Uhr, noch heute und morgen.