Samuel Beckett lebte in Paris

Auf den Spuren des irischen Schriftstellers zwischen Montparnasse und grauen Betonbunkern  ■ Von Andreas Amsat

Der graue Steindeckel des Grabes auf dem Friedhof Montparnasse verrät zunächst nichts Besonderes: „Suzanne Beckett, née Deschevaux-Dumesnil, 1900–1989, Samuel Beckett 1906–1989“. Kein Kreuz, kein Kranz, nichts schmückt das schlichte Grab, das doch immerhin auf dem parisüblichen Friedhofsverzeichnis berühmter Toter verzeichnet ist, wenn auch noch provisorisch mit Bleistift hinzugefügt. Seit dem 22.12.89, dem Todestag Samuel Becketts, scheint es keine Neuauflage gegeben zu haben. Das Grab liegt verlassen auf der anderen Seite des Kiesweges. „Der Mensch soll die Erde verlassen, ohne eine Spur zu hinterlassen“, so lautet ein indianisches Sprichwort, und ebendies scheint das Credo Becketts gewesen zu sein, wäre da nicht diese Not zum Schreiben gewesen.

Unser Spurensuche beginnt an der École Normale Supérieure, in der Rue d'Ulm, mitten im 5. Pariser Arrondissement. Das ist das Viertel der Sorbonne, der Universitätsinstitute, des berühmten Lycée Henri IV und der großen französischen Eliteschulen, von denen die ENS die Spitze darstellt. Ursprünglich zur reinen Lehrerausbildung gedacht, entwickelte sich die Schule bald zur Kaderschmiede für den Staat. Nahezu alle hohen Posten in Wirtschaft und Politik sind von ehemaligen Schülern der ENS oder der ENA, der Hochschule für Verwaltung, besetzt.

Beckett kam 1928 das erste Mal nach Paris. Er war 22 Jahre alt und nach der angelsächsischen Tradition in seinem Studium bereits weit fortgeschritten. Ein altehrwürdiger Professor hatte ihn für moderne Sprachen begeistert, vor allem studierte Beckett Italienisch und Französisch. So beschloß der Professor, in Beckett einen geeigneten Nachfolgekandidaten zu sehen, und schickte ihn im Rahmen eines Austauschprogramms als Lektor an die ENS. Hier bezog Beckett eine Dienstwohnung in der Rue d'Ulm und lernte seinen Vorgänger McGreevy kennen, der ihn mit dem damals schon berühmten James Joyce und seiner Clique in Verbindung brachte. Und damit kam Beckett in das Montparnasse- Viertel, in dem Joyce hof hielt und wohin Beckett immer wieder zurückkehren sollte.

In diesem Viertel sind die Cafés und Brasserien zahlreich. Auch die Schriftsteller und Poeten (und zu jenen zählte sich der junge Beckett bereits) um Joyce hatten ihre Cafés: das Mathieu am Boulevard St. Michel, das Café du Départ in der Rue Gay Lussac direkt gegenüber dem Eingang des Jardin du Luxembourg oder das Café de la Mairie am Place St. Sulpice. Beckett verließ schnell das enge Leben der ENS und schloß sich der Gruppe der armen irischen Intellektuellen in Paris an. Er verrichtete kleine Gefälligkeiten für den mehr und mehr erblindenden Joyce, schrieb auch einen Essay über ihn, einen weiteren über Proust und begann eine eigene literarische Produktion, von der vor allem das epische Gedicht „Whoroscope“ (Wortspiel aus Horoskop und whore = Hure) geblieben ist. Innerlich verabschiedete er sich von der vorgezeichneten akademischen Laufbahn, doch im Jahre 1930 war zunächst seine Stellung an der ENS beendet. Ihm blieb nichts anderes, als nach Dublin zurückzukehren.

Im Jahr 1932 kehrt Beckett nach Paris zurück, nachdem er seine so erfolgversprechende Karriere abgebrochen und sich damit endgültig ins gesellschaftliche und vor allem familiäre Aus gestellt hatte. Und damit nehmen wir seine Spur wieder auf und folgen der Rue Vaugirard, die, am Jardin du Luxembourg ihren Anfang nehmend, bis hinaus zum Boulevard Périphérique führt. Zunächst im Viertel des Senats beginnt diese Straße sehr vornehm und elegant mit Boutiquen und Großbürgerhäusern. Zu unserer Linken befindet sich der hohe Zaun, der den Pariser Innenstadtpark umgibt, reihenweise werden wir von Joggern überholt, bis der Palast, der heute den Senat birgt, ihnen den Weg versperrt. Auf der anderen Seite taucht die Rückfront des Odéon- Theaters auf (heute ThéÛtre de l'Europe), in dem so viele Stücke Becketts als die Theaterereignisse der Saison liefen. Kurz darauf biegen wir rechts in die kleine Gasse Férou zum Place St. Sulpice. In der Verlängerung der Fassade der Kirche St. Sulpice, die mit ihren beiden Stummeltürmen das Bild des Platzes beherrscht, liegt klein in einer Straßenecke das Café de la Mairie. Dieses Café scheint sich im Gegensatz zu vielen anderen Literaturtreffpunkten nicht verändert zu haben. Hemingway war hier Stammgast, und Djuna Barnes, wegen der Beckett oft hierherkam, da er auf ihre Freundschaft sehr stolz war. Auf der immer vollen Terrasse des Cafés sitzt man von alten Bäumen beschattet und wirft einen Blick auf den Erzbischof, der inmitten einer wasserspuckenden Fontäne auf seinem Denkmal ruht.

Wir verlassen diesen schönen Platz und nehmen die Rue Bonaparte, auf der wir wieder zur Rue Vaugirard gelangen. Sie verliert hier nach und nach ihr bürgerliches Aussehen und führt zu den ärmeren Vierteln des Pariser Südens. An der Stelle des Hôpital Necker, eines der größten Krankenhäuser von Paris, muß das Hôtel Trianon gestanden haben, in dem Beckett 1932 für einen kurzen Aufenthalt abstieg. Denn nicht weit davon liegt die „l'Impasse de l'Enfant Jésus“, deren Name Beckett so sehr beeindruckt hatte, daß er Murphy in dem gleichnamigen Roman in einer Straße dieses Namens wohnen ließ. Den Roman wird er allerdings erst einige Jahre später in London schreiben, wohin er dann auch in aller schriftstellerischen Freiheit diese Gasse verlegt. In der realen Sackgasse gibt es noch zwei Wohnhäuser, die man sich in ihrem erbärmlichen Zustand durchaus als Behausung von Murphy vorstellen kann. Hier kommt Beckett später noch häufig vorbei, da er ab 1938 mit seiner Lebensgefährtin und späteren Frau Suzanne Deschevaux-Dumesnil in die Rue des Favorites ziehen wird. Diese Wohnung war, abgesehen von den Dienstwohnungen in Dublin und Paris, die erste eigene Wohnung Becketts, und das immerhin schon im Alter von 32 Jahren. Der Krieg kam und zersprengte den Joyce-Kreis in alle Richtungen. Beckett blieb zunächst als neutraler Ausländer in Paris, doch dann wurde die Résistance-Gruppe, in der er arbeitete, ausgehoben. Beckett floh mit seiner Lebensgefährtin aus der Rue des Favorites in den Süden, gerade noch rechtzeitig, bevor die Deutschen seine Wohnung durchsuchten. Als er dann im Mai 46 endgültig nach Paris zurückkehrte, fand er auch seine Wohnung wieder vor. In dem Haus, das heute von gesichtslosen Neubauten umgeben ist und an dem keine Tafel auf den berühmten Bewohner hinweist, schrieb er in den folgenden Jahren die Werke, die ihn so bekannt machten: „Warten auf Godot“, „Molloy“, „Mallone stirbt“ und „Der Namenlose“. Bis 1960 blieb er hier wohnen, obgleich auch seine finanziellen Verhältnisse sich längst gebessert hatten. Hier wird ein Grundsatz Becketts deutlich: der absolute Wille, ja Zwang zur rücksichtslosen Einfachheit, Unbequemlichkeit, als wolle er sich permanent selbst bestrafen und dürfe sich nicht das Recht zugestehen, gut zu leben.

Becketts nächste Lebensstation, der Boulevard St. Jacques im 14. Arrondissement. Mit der Métro erreichen wir schnell diese Hauptverkehrsstraße, die Métro- Station liegt direkt vor dem Haus, in dem sich Becketts zweite und letzte Wohnung befand. Hier wohnte er 29 Jahre bis zu seinem Tod. Beckett genoß ein ganz neues Gefühl: Er verfügte endlich über ein eigenes Arbeitszimmer, das nach Norden hin weit über die Türme von Notre Dame sah und in noch weiterer Ferne über Montmartre. Direkt zu den Füßen des Schriftstellers aber lag der Innenhof eines Gefängnisses. Das Haus Nummer 38 ist ein Bau aus dem Ende der fünfziger Jahre, gleichförmig, eintönig, grauer Verputz. Typisch für Beckett. Längst war er bekannt, längst wurden seine Theaterstücke auf allen großen Bühnen gespielt, seine Bücher in zahllosen Ländern gelesen. Soeben war er Ehrendoktor am Trinity College geworden, in wenigen Jahren wird er den Nobelpreis erhalten. Nicht wenige, wenn nicht gar alle Menschen in dieser Lage hätten sich wohl spätestens jetzt eine dieser vielen Traumwohnungen in den alten Pariser Bürgerhäusern geleistet. Doch Beckett wählte den Boulevard St. Jacques, eine sechsspurige Hauptstraße mit der Métro auf dem Mittelstreifen. Zu Fuß machen wir uns auf den Weg zum Zentrum von Becketts Leben in Paris: den großen Cafés auf dem Boulevard Montparnasse.

An der Ecke Boulevard St. Michel/Boulevard Montparnasse treffen wir auf La Closérie des Lilas, das von sich behauptet, das älteste literarische Café von Paris zu sein. Immerhin werden hier noch jährlich zwei Literaturpreise vergeben. Wegen der horrenden Preise haben längst die wohlhabende Mittel- und Oberschicht sowie reiche Touristen die Künstler abgelöst. Gutsituierte Herren und Damen im Abendkleid lassen sich von makellosen Kellnern Hummer, Austern und Champagner servieren. Das einfachste Glas Wein kostet 20 Francs; Becketts Lieblingsgetränk, der Whiskey, liegt bei 50 Francs pro Drink. Auch damals waren die Preise hier schon höher als am Boulevard St. Michel, und so dürfte Beckett zunächst noch ein seltener Gast gewesen sein, später dann jedoch ein bei allen Kellnern bekannter Stammgast, blieb er doch diesen Cafés sechzig Jahre lang treu. Häufiger noch war er in der Rotonde oder gleich gegenüber im Dôme zu finden, einige hundert Meter den Boulevard hinauf in Richtung des Tour du Montparnasse, dieses unglaublich häßlichen Hochhauses.

Spätestens seit dem Bau dieses schwarzen Kastens ist die Hauptverkehrsader mit ihren pausenlos vorbeirauschenden Autos zu einer der Hauptausgehadressen von Paris geworden. Große Kinos und unzählige Restaurants und Brasserien bestimmen mit ihren Leuchtreklamen das Straßenbild. Tausende von amüsierwilligen Einheimischen und Touristen schieben sich über die breiten Gehwege, doch auch hier bleiben Rotonde und Dôme den besser gefüllten Brieftaschen vorbehalten. Hummer- und Austernstände werben vor den Türen. Nichts scheint geblieben zu sein von der Zeit, als sich hier die Intellektuellen von Paris trafen.

Das Dôme jedoch hat sich zumindest das altmodische Flair erhalten, eine plüschige, verspielte Einrichtung, alte Stofflampen und viel Holz. Und dazu hat man Fotos angebracht aus der Zeit, als der Boulevard noch Kopfsteinpflaster hatte und man ihn auch betrunken noch relativ gefahrlos überqueren konnte. Auf diesen Fotos findet sich natürlich auch Beckett, in der für ihn so typischen, etwas linkischen Haltung: hochaufgeschossen, auf die anderen herabblickend, strenges, graues Haar, abwesender Gesichtsausdruck.