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Das Kröller-Müller-Museum in Otterlo präsentiert erstmals simultan seinen gesamten Bestand  ■ Von Stefan Koldehoff

„Deltaplan“ hieß das große Projekt, mit dem die niederländische Regierung vor Jahren begann, der Nordsee wertvollen Boden für ihre Provinz Zeeland abzutrotzen. Das Projekt ist abgeschlossen, die Institution Deltaplan aber blieb bestehen – als finanzielle Feuerwehr für dringende Vorhaben des Staates. In diesem Jahr profitiert davon unter anderem das Rijksmuseum Kröller-Müller in Otterlo. In unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze idyllisch im Naturpark Hoge Veluwe gelegen, beherbergt das 1938 vom Industriellenehepaar Helene Kröller und Anton Müller gegründete Haus die mit 273 Werken nach Amsterdam zweitgrößte Van-Gogh-Sammlung der Welt.

Einen Namen machte sich das Kröller-Müller-Museum aber vor allem durch seine in Europa einzigartige Skulpturensammlung und durch ein ambitioniertes Ausstellungsprogramm. Zuletzt zog 1993 die in Otterlo mitkonzipierte Juan- Gris-Retrospektive ganze Heerscharen von Besuchern aus Deutschland an. Als dafür Teile der ständigen Sammlung abgehängt werden mußten, wurde deutlich, daß das Depot des Museums längst aus allen Nähten platzt. In diesem Jahr wird das Magazin in Otterlo deshalb vollständig umgebaut und erweitert – finanziert mit einer siebenstelligen, aber nicht auf einmal ausgeschütteten Guldensumme aus dem Deltaplan.

Das Museum selbst in der besucherträchtigen Zeit zwischen Oster- und Sommerferien zu schließen, mochte man sich im niederländisch-deutschen Grenzgebiet allerdings nicht leisten. Im Gegenteil: Aus der Umbauaktion heraus entstand die von Restaurator Johannes van der Wolk konzipierte Ausstellung „Depot op Zaal“ (Depot im Saal). Die Präsentation fast aller eigentlich im Museumsdepot befindlichen Gemälde ist eine der ehrlichsten Bilderschauen, die in den zurückliegenden Jahren in Europa zu sehen war. Ohne Rücksicht auf Entstehung, Epoche oder Format einfach alphabetisch in bis zu drei Reihen übereinandergehängt, erlaubt die Ausstellung einen unzensierten Blick hinter die Kulissen eines renommierten Kunstmuseums. Sie führt vor Augen, daß die in den Ausstellungssälen permanent zu sehenden Werke nur einen kleinen Ausschnitt der Sammlung repräsentieren, zeigt in Kompositionsskizzen und Bildentwürfen, daß zur kunsthistorischen Aufgabe eines Kunsthauses auch die Spurensicherung auf dem Weg zum Meisterwerk gehört und macht deutlich, welchen Sachzwängen der Aufbau einer Museumssammlung unterliegen kann: In der Otterloer Ausstellung sind nämlich nicht in erster Linie weltberühmte Meisterwerke ausgestellt, sondern auch jene viert- und fünftklassigen schwachen Bilder, die als Schenkung anzunehmen ein Direktor bisweilen gezwungen ist, um vom eitlen Spender auch das eine Hauptwerk zu bekommen, auf das er seit langem hofft.

Gleichzeitig führt sie vor allem durch die unkonventionelle Hängung auf wunderbar einfache Weise vor, wie sich tatsächliche Meisterwerke von der Masse abheben. Ihres kunsthistorischen Kontextes völlig beraubt, müssen die Bilder aus eigener Kraft überzeugen. Nicht allen gelingt das so wie dem Frauenporträt von Pablo Picasso, das unvermittelt neben einer mittelalterlichen Madonna von Di Pietro hängt, Louise Bourgeois' unbetiteltem Querformat von 1946/47 über einem barock gerahmten Spargelstilleben von Bonvin, den sieben gezeigten Werken des bei uns noch viel zu unbekannten Van-Gogh-Zeitgenossen George Hendrik Breitner oder den 17 imposanten Leinwänden seines Kollegen Isaac Israels, von dem sonst höchstens drei Werke gleichzeitig gezeigt wurden. Daneben lehnt lässig ein Streifenmuster von Daniel Buren an der Wand.

Ihr höchstes Maß an Ehrlichkeit erreicht die Otterloer Depot- Schau freilich, wo dezente Fragezeichen auf den Bildtafeln auf unsichere Zuschreibungen verweisen. 1929 etwa ließen sich die Kröller- Müllers eine „Seeszene in Saintes- Maries“ aus der Werkstatt des Berliner Van-Gogh-Fälschers Otto Wacker andrehen. Inzwischen gelten auch zwei Blumenstilleben, ein „Kornfeld“ und ein „Baum mit Häusern“, die früher zu den sicheren Werken van Goghs zählten, nur noch als ihm zugeschrieben. In Otterlo sind nun alle fünf Kuckuckseier zu sehen. Auch ein angeblich um 1542 entstandenes Männerporträt von Tintoretto mutet äußerst zweifelhaft an. Zur Offenbarung dieser Fehlkäufe hat das Kröller-Müller-Museum niemand gezwungen. Wie in vielen renommierten Museen üblich, hätte man auch in Otterlo verschämt den Mantel des Vergessens über dieses nicht eben glorreiche Kapitel der eigenen Geschichte decken können. Daß dies einmal nicht geschah, ehrt nicht allein die verantwortlichen Museumsleute in Otterlo. Es macht auch Lust darauf, ähnliche Nabelschauen in deutschen Museen zu sehen.

„Depot op Zaal“. Noch bis zum 5. Juni im Rijksmuseum Kröller- Müller, Otterlo. Info: Tel. 0031- 8382-1241.