Menschen, die sich entfernen

Die neue Zeit? Ohne mich! – Swetlana Alexijewitsch sammelt Geschichten russischer Selbstmörder  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Wenn jemand beschließt, sich das Leben zu nehmen, tritt seine Umgebung in den Hintergrund. Was ihn zuvor quälte, ihn klein machte und zusammenstauchte – geliebte oder verhaßte Menschen, unerträgliche Lebensumstände – verliert seinen Einfluß. Ich bin schuld, sagt dennoch die Gesellschaft und schlägt sich dabei etwas zu laut an die Brust, um den Skandal zu vertuschen, daß sich jemand freiwillig aus ihr entfernt.

Zwar erwähnt Swetlana Alexijewitsch im Vorwort ihres Buches mit dem etwas reißerischen Titel „Im Banne des Todes – Geschichten russischer Selbstmörder“ den enormen Anstieg der Selbstmordrate in der GUS – statistischen Angaben zufolge nahmen sich 1991 60.000 Menschen das Leben; im Vorjahr waren es noch 40.000. Sie erklärt auch, daß es sich bei denen, die in den 17 Kapiteln des Buches zu Wort kommen, um „die Enttäuschten und zur Anpassung an die neue Zeit Unfähigen“ handelt, sie verzichtet jedoch weitgehend auf die „gesellschaftskritische“ Instrumentalisierung der Suizidrate, die letztlich denen, die sich das Leben genommen haben, die Verantwortung für ihre Tat abspricht. Statt dessen läßt sie Betroffene reden: gescheiterte Selbstmörder oder, im Falle des Erfolgs, Angehörige und Kollegen. Nicht nur Rentner, Kriegsteilnehmer, greise KPdSU-Mitglieder, die vor allem unter dem ideologischen Zusammenbruch, unter dem Verlust kollektiver Werte leiden, sondern auch junge Leute und Menschen mittleren Alters, die sich aus „normalen“ Gründen entfernten.

Natürlich reagieren sie auf die Verhältnisse, innerhalb derer sie zu leben gezwungen waren. Wahrscheinlich nehmen sie sie auch genauer wahr: die Krise, die kollektive Verunsicherung, deren Grad man im sich wert- und glaubensfrei gebenden Westen kaum ermessen kann, die materiellen Auswirkungen einer Mischung aus Korruption und Manchesterkapitalismus, der sich mit dem westeuropäischen System nicht vergleichen läßt. Ihre Entscheidung, sich umzubringen, wo die meisten weitermachen, ist jedoch die denkbar einsamste und individuellste. Sie ist nicht die logische Folge unerträglicher Lebensumstände – sonst müßten sich noch viel mehr Menschen umbringen –, sondern die Weigerung, unter diesen Umständen weiterzuleben. Daß die Berichte und Geschichten der Selbstmörder dennoch mehr über die psychische Seite der russischen Gegenwart verraten, als es die Elendsreportagen können, ist etwas anderes.

Lächerliche Helden

„Alte Menschen. Ihnen hat man alles genommen, sogar die Möglichkeit, mit der Vergangenheit zu leben. Man hat ihnen ihr Schicksal genommen.“ Und sie sich das Leben. Der 70jährige Chirurg zum Beispiel, der 1941 gegen Nazideutschland kämpfte, damit „unsere Heimat reich und stark wird. Damit sie keiner besiegen kann.“ Früher war er ein bewunderter Held. Oft wurde er in die Schulen eingeladen, um von seinen Erfahrungen zu berichten. Jetzt soll er dankbar sein für deutsche Care- Pakete. Seinen ersten Selbstmordversuch unternahm er, nachdem er im Park von jungen Männern zusammengeschlagen worden war. Die hatten ihm seine Parteiabzeichen abgerissen und ihn wüst verhöhnt: „Du Sieger! Wenn du nicht gesiegt hättest, würden wir jetzt bayerisches Bier trinken.“ Der unfreiwillig Gerettete besteht darauf, daß er kein Sklave gewesen sei: „Ich war Kommunist!“ Und: „Ich will als Kommunist sterben, ich will als Sowjetmensch sterben.“

Ein 87jähriger hatte sein Leben lang „die Partei“ und vor allem auch Stalin „geliebt“. „Damals“ hätte er alles getan, „was er befahl“. Er wurde unter Stalin zusammen mit seiner Frau verhaftet und in der Haft gefoltert; dessen ungeachtet bemühte er sich nachher, wieder in die Partei aufgenommen zu werden. Den Moment, als ihn die KPdSU rehabilitierte, beschreibt er als „die glücklichsten Minuten meines Lebens“, obgleich man ihm dabei mitgeteilt hatte, daß seine Frau im Lager gestorben sei. Dem Westler erscheint das vielleicht irrsinnig; doch der Mann, der so spricht, ist klug wie alle Gesprächspartner von Swetlana Alexijewitsch. Es war eine andere Welt, sagt er, in der das, was heute als irrsinnig gilt, normal war. Heute ist die Partei verraten, „die Idee ist verraten. Alles ist verschwunden, wofür ich mich und mein Leben geopfert habe. Auf dem Platz herrscht eine neue Religion – der Markt. Geld! Geld! Geld!“ Sein zweiter Selbstmordversuch gelang.

Eine 52jährige Ärztin, deren Mutter im Lager war, betont die religiöse Dimension des Sozialismus: „Wir glaubten! Glaubten! Glaubten! (...) Ich kann nicht nur für mich leben. Ich konnte es nie.“ Inzwischen fühlt sie sich wie in einem fremden Land: „Ich verstehe nichts und erkenne nichts wieder. Ich habe niemanden erschossen, niemanden verraten, und die Leute brüllen auf den Straßen, daß man alle Kommunisten einsperren soll. Weswegen? Mich, meinen Mann. Wir haben geglaubt, wir haben geliebt. Aber jetzt glaube ich niemandem mehr! Ich habe Angst vor allen. Ich habe Angst, weil ich meine Liebe zu dem, was war, nicht aufgeben kann.“

Den 54jährigen Parteifunktionär, der „immer nur Befehle ausführen, aber nie eigene Ideen produzieren konnte“, hatte die Ära Gorbatschow schon völlig verwirrt: „Bald hatte er vor nichts mehr Angst, als irgendwo draußen einen Vortrag zu halten oder mit Leuten zu reden“, erzählt sein Kollege. In der Jelzin-Zeit verlor er seinen Posten. Die Partei jagte ihn weg, das Gebietskomitee wurde aufgelöst. „Damit konnte er sich nicht abfinden.“ In einem alten Anzug und alten Schuhen stürzte er sich aus dem Fenster. Das war das erste Mal in seinem Leben, daß er gegen die Spielregeln verstieß.

Der 55jährige Fotograf, der Gedichte schrieb und eine Geliebte hatte, erschoß sich, weil er sich zu alt fühlte, um mit dem Kapitalismus zurechtzukommen. Wie viele seiner Generation hatte er den Sinn seines Lebens im Sieg über den Faschismus gefunden: „Den Lebensinhalt als persönliches Problem gab es für sie nicht. Ich weiß noch sehr gut, wie sie sogar an Feiertagen bei Tisch nur von Rußland sprachen, nie von ihrem eigenen Leben“, erzählt seine Tochter. In seinen Notizen schrieb er: „Du hast in dieser Zeit gelebt, und auf einmal sollst du schuld sein, daß du in dieser Zeit gelebt hast. Dabei hast du gelitten, dich abgequält. Alles unwichtig: Du bist trotzdem schuld.“ Und: „Früher, als man es nicht hätte tun dürfen, wurde mehr über den Sinn des Lebens geredet. Heute redet man nicht darüber.“

Auffällig an den Gesprächsprotokollen ist, daß die meisten der überlebenden Freunde oder Angehörigen nicht als Überlebende sprechen, denen durch den Selbstmord etwas genommen oder eine narzißtische Kränkung zugefügt worden wäre; meist sind sie solidarisch mit den Motiven der Selbstmörder, so als hätten sie selber es nur zufälligerweise nicht getan. Die 80jährige Nachbarin eines Rentners zum Beispiel, der sich vor seinem Haus angezündet hatte: „Mein Leben lang habe ich auf das Glück, auf ein besseres Leben gewartet. Wart's ab... Hab Geduld... Wart's ab... Hab Geduld... Wir haben unser ganzes Leben immer nur gewartet... Und nun hat's einer nicht mehr ausgehalten! So ist das! Man hat ihn zum Friedhof getragen, und was ist geblieben? Zwei Zimmer in einer Baracke, ein Gurkenbeet, ein paar rote Urkunden und die Medaille ,Sieger im sozialistischen Wettbewerb‘. Die hab ich auch.“

Auch Reiche weinen

Swetlana Alexijewitsch hat jedoch nicht nur mit denen gesprochen, die der verlorengegangenen Sowjetunion nachtrauern und in den meisten Westmedien als ewiggestrige Nostalgiker oder Altkommunisten denunziert werden. Auch die, die schlicht die Gegenwart unerträglich finden, kommen zu Wort: Ein junger Söldner, der im Krieg keine Probleme damit hatte, zu vergewaltigen und zu morden, erschoß sich, weil sich seine Frau daheim einen anderen gesucht hatte. Ein gedemütigter junger Mann, der sich weigerte, Schmiergelder an Polizisten zu zahlen und dafür mehrmals zusammengeschlagen wurde, besorgte sich eine Pistole, um sich an den Verantwortlichen zu rächen. Er konnte aber nicht auf andere schießen, da erschoß er sich selbst.

Eine 36jährige Ingenieurin kam mit der Einsamkeit ihres Arbeitslosendaseins nicht zurecht. „Der Rahmen, in dem ich mein Leben eingerichtet hatte, ist weggebrochen. (...) Daß Geld auch noch Freiheit bedeutet, hatte ich nicht vermutet. Ich wollte nur ein Zuhause haben, genug zu essen, Sachen zum Anziehen. All das, was mein Sohn heute ,Sklavenkomfort‘ nennt.“

Zu Hause hatte die „gerettete“ Selbstmörderin regelmäßig die Folgen der mexikanischen Fernsehserie „Auch Reiche weinen“ gesehen: „Da geht es um Liebe... Wie konnte ich sterben wollen, wenn eine halbe Stunde später die nächste Folge kommt? Und ich wollte wirklich sterben...! Aber ich hätte doch so gerne gewußt, ob sie nun heiraten oder nicht!“

Selbstmordgeschichten tendieren ins Literarische: Selbstmörder sind immer Einzelhelden. Diese Würde beläßt ihnen Swetlana Alexijewitsch. Nie verallgemeinert sie die Worte ihrer Gesprächspartner, nie benutzt sie sie, um wortreich die Gesellschaft anzuklagen. Als Leser erfährt man auch so genug von der Unerträglichkeit der russischen Gegenwart, und komischerweise bleiben nach dem Lesen eher beiläufige Details zurück, die scheinbar nichts mit dem Thema zu tun haben: ein Gespräch zum Beispiel, daß die junge Medizinstudentin mit ihrem Sohn führte: „,Mami', sagte Serjoscha, ,ich habe Angst im Dunkeln.‘ – ,Warum?‘ – ,Weil dann unter der Liege so kleine böse Männchen vorkriechen.‘ – ,Wo kommen die denn her?‘ – ,Und wo kommen die Menschen her?‘ – ,Die werden aus Liebe geboren.‘ – ,Und die kleinen Männchen aus Traurigkeit.‘“

Swetlana Alexijewitsch: „Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder“. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. S. Fischer Verlag, 200 Seiten, 34 DM.