Ein „Versöhner“ mit dem Willen zur Macht

Das System Rau fußt auf exzellenten kommunikativen Fähigkeiten und sicherem Machtinstinkt / Ein Prediger und politischer Strippenzieher  ■ Von Walter Jakobs

Im Bundestagswahlkampf 1987 prangte die Parole des Kanzlerkandidaten Johannes Rau tausendfach auf Plakatwänden: „Versöhnen statt spalten“. Raus zentrale Botschaft als Drei-Worte-Konzentrat. Gewiß, ein wenig zu pathetisch, aber doch authentisch, stimmig, das politische Anliegen des Kandidaten im Kern widerspiegelnd. Beim Wahlvolk verfing die feingesponnene Rau-Kampagne indes nicht – gewählt wurde Helmut Kohl.

Während die SPD nach der Niederlage die versöhnlerische Parole schnell kassierte, mochte der gescheiterte Kandidat davon nicht lassen. Im Gegenteil, in immer neuen Variationen flocht Rau diese seinem Gemüt sehr nahe kommende Formel in Hunderte von Reden ein. Auf dem Aachener Schriftstellerkongreß vor zwei Wochen hörte sich die neueste Strophe dieses beliebten Rau-Liedes so an: Für den Schriftstellerverband gelte wie auch sonst im Prozeß der deutschen Vereinigung, daß „wir die gemeinsame Zukunft nur durch eine Versöhnung gewinnen können, die von den Opfern nicht als ,Schwamm drüber‘-Strategie mißverstanden werden kann“. Aber, so fuhr Rau fort, „dort, wo es ohne Schaden möglich ist, müssen wir auch barmherzig sein. Das ist nicht falsche Beruhigung, Opportunismus oder gar Prinzipienlosigkeit. Ich nenne das Weitsicht, Großmut, Hochherzigkeit.“

Solche vielbeklatschten Worte wirkten in Aachen wie Balsam auf die gebeutelten Seelen der Schriftstellerinnen. Als Johannes Rau später aus dem Saal strebte, meldete sich Wolfram Dorn, Bundesvorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes und dem Düsseldorfer Landtag als FDP-Abgeordneter angehörend, so zu Wort: „Johannes Rau verläßt uns jetzt auf seinem Weg zu einem neuen Beruf. Meine Stimme hat er schon sicher.“ Darauf Rau: „Jetzt sind wir schon zwei.“ That's Rau! Der Saal verabschiedete ihn mit schallendem Gelächter.

Solche Ironie hilft Rau, von der schier unausweichlichen Niederlage abzulenken. Mit dem Rückzug von Steffen Heitmann sind die Chancen des Sozialdemokraten auf nahe Null gesunken. Zwischen den in den ersten beiden Wahlgängen zum Sieg notwendigen 663 Jastimmen in der Bundesversammlung und den 502 SPD-Stimmen liegen Welten. Auch eine relative Mehrheit bei einer Stichwahl im dritten Wahlgang scheint angesichts der Stimmenverteilung – CDU: 619, SPD: 502, FDP: 111, Bündnisgrüne: 44, PDS: 33, „Republikaner“: 8, andere: 7 – so gut wie ausgeschlossen. Da müßten noch viele aus dem Regierungslager dem Beispiel Dorn folgen.

Von der fröhlichen Zuversicht, mit der Rau einst in das Rennen um das ersehnte Amt gestartet war, ist nicht mehr viel geblieben. Seine in zahlreichen Interviews geäußerte Überzeugung, er betrachte den Ausgang als „wirklich offen“, darf man getrost unter der Rubrik Zweckoptimismus abbuchen. Enge Weggefährten des Ministerpräsidenten zeigen sich überzeugt, daß Johannes Rau selbst nicht mehr an einen Sieg glaubt und schon für die weitere Arbeit in Nordrhein-Westfalen das Feld bestellt. Als untrügliches Indiz gilt ihnen ein Fernsehinterview, in dem Rau schon vor Wochen auf die Frage, wer seine drei besten politischen Freunde seien, neben Wolfgang Clement und Helmut Schmidt auch den Düsseldorfer SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann erwähnte. „Den hätte er nie genannt, wenn er an seine Wahl zum Bundespräsidenten glaubte“, sagt ein kundiger Rau- Deuter.

Tatsächlich herrscht zwischen Rau und dem mächtigen Fraktionschef seit langem eine frostige Atmosphäre. Immer wieder hatte der 63jährige Farthmann, der selbst 1995 erneut in den Landtag will, gegen die Altherrenriege im Rau-Kabinett gestänkert und lauthals eine Regierungsumbildung und -verjüngung gefordert. Daß Farthmann dann im Vorfeld der Rau-Nominierung im Verein mit Gerhard Schröder den Kandidaten im letzten Sommer öffentlich bedrängte, sich endlich als SPD-Kandidat für die Weizsäcker-Nachfolge zu outen, sorgte für einen neuerlichen Tiefpunkt der spannungsreichen Beziehung. Zwar war Raus schöner Plan, sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse quasi als überparteilicher Kandidat zu präsentieren, zu diesem Zeitpunkt schon gescheitert – weil Kohl von seiner über Mittelsmänner in Aussicht gestellten Rau-Unterstützung längst nichts mehr wissen wollte –, aber der Kandidat selbst suchte immer noch unverdrossen nach der überparteilichen Lösung. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich das öffentliche Lob für Farthmann als typischer Rau- Stil: Wenn die Gegner im stillen nicht kaltzustellen sind, auch wohlfeile Pöstchenangebote nicht helfen, dann werden sie durch öffentliche Umarmungen gnadenlos eingefangen und eingebunden. So regiert Rau seit 1978. Immer auf der Hut, die Szene um sich herum genau beobachtend. Grobe verbale Prügel verteilt Rau nie – auch nicht intern. Wagt sich mal jemand aus seiner Riege in der Presse zu weit hervor, dann erreichen ihn mit roter Tinte geschriebene Rau-Botschaften, in denen der „liebe“ Parteifreund „herzlich“ gegrüßt und darauf hingewiesen wird, daß „gewisse Sätze zur Zeit nicht hilfreich sind“. Im Rau-Code kommt eine solche Formulierung einer schallenden Ohrfeige gleich – als quasi letzte Warnung.

Ex-Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs, der mit knapp 150 weiteren prominenten Personen Raus Kandidatur in einer parteiübergreifenden Initiative unterstützt, liegt schon richtig, wenn er den „scharfen Verstand, den Humor und das große Herz“ des Kandidaten lobt. Daß Friedrichs aber bei Rau „immer das Gefühl“ beschleicht, da ist einer, der „auch meint, was er sagt“, beweist indes nur einmal mehr, daß Gefühle den klaren Blick zu trüben vermögen. Sicher, in politischen Grundfragen redet Rau so, wie er denkt, kraftmeierische Versprechungen sucht er zu vermeiden, aber unter der weichen Oberfläche verbirgt sich auch ein Mann mit sicherem Machtinstinkt, der listig und konsequent seine Fäden zieht – im Zweifelsfall auch anders als öffentlich behauptet.

Zuletzt war diese Strippenzieherei sehr erfolgreich bei der Kür von Scharping zum Parteivorsitzenden, bei der Rau öffentlich den Part des neutralen „Moderators“ mimte. Daß ausgerechnet die Führungsriege der nordrhein-westfälischen SPD, ansonsten ein fester Hort des Widerstandes gegen alle plebiszitären Demokratisierungsversuche, sich für die Mitgliederbefragung stark machte, hatte wenig mit einer neuentdeckten Liebe zur Basisdemokratie, aber viel mit der Förderung ihres Favoriten zu tun. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck, hat damals frühzeitig den Braten gerochen: „Die Mitgliederbefragungsstrategie ist eine Schröder-Verhinderungs-Strategie.“ Sie hat – nicht zuletzt dank Rau – glänzend funktioniert.

Johannes Rau wurde als Sohn tief religiöser Eltern – sein Vater war ein evangelischer Prediger – am 16. Januar 1931 in Wuppertal geboren. Nach der mittleren Reife absolvierte er zunächst eine Lehre als Verlagsbuchhändler und stieg später zum Geschäftsführer eines theologischen Verlages der evangelischen Jugend in Wuppertal auf. 1952 trat Rau der von Gustav Heinemann gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei bei, um dann im Schlepptau von Heinemann 1957 zur SPD zu wechseln. Der spätere Bundespräsident wurde ihm ein enger väterlicher Freund. Schon ein Jahr später zog Rau für die SPD in den Düsseldorfer Landtag ein. 1970 holte ihn der sozialdemokratische Ministerpräsident Heinz Kühn als Wissenschaftsminister ins Kabinett. Acht Jahre später bestieg der Sozialdemokrat, der sich immer scheute, das Wort Genosse als Anrede zu gebrauchen, den Chefsessel in Düsseldorf. Privat wirkte die enge Bindung zu seinem großen Vorbild Heinemann fort. Rau heiratete dessen Enkelin Christine Delius. Die Ringe der Eheleute stammen vom Präsidentenpaar Heinemann. Mächtig stolz ist Rau auf seine drei Kinder, über die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit unzählige Anekdoten zu erzählen weiß.

Doch wer in Rau nur den treuherzigen, bibelfesten Predigersohn aus Wuppertal sieht, geht fehl. Von einem gefestigten christlichen Fundament aus operierend, beherrscht Rau das politische Geschäft – mit allen Finessen. Der Streit um die Ostberliner Wahlkampfhilfe für den einstigen Kanzlerkandidaten ist nur ein Beispiel dafür. Im September 1986, ein paar Monate vor der Bundestagswahl, hatte Kandidat Rau die deutsche Öffentlichkeit mit der Ankündigung überrascht, daß die DDR-Führung den ungehinderten Transit tamilischer Flüchtlinge über den Ostberliner Flughafen Schönefeld in den Westteil der Stadt nach Verhandlungen mit seinem Beauftragten Egon Bahr unterbinden werde. Nach Öffnung der SED-Parteiarchive steht fest, daß Bahr in Gesprächen mit Erich Honecker und anderen seinerzeit eine Regelung erbat, die für den Wahlausgang „günstig wäre“. So geschah es. Rau durfte das Ergebnis nach intensiven Verhandlungen seines Beauftragten exklusiv als seinen Verhandlungserfolg verkünden. Als „großen Triumph“ feierte die Bonner SPD- Baracke den Deal. Rau wies seinerzeit den von der CDU geäußerten Verdacht einer gezielten Wahlkampfhilfe empört zurück. Die Akten aus dem SED-Parteiarchiv sprechen indes eine andere Sprache. Sie belegen im Detail die zeitliche Abstimmung zwischen Bahr und der DDR-Führung. Geschadet hat diese Enthüllung Rau nicht, weil eine geifernde CDU sich sicher wähnte, mittels dieser SED-Wahlkampfhilfe Rau als Vaterlandsverräter, der „die deutsche Einheit abgeschrieben“ habe – so der Düsseldorfer CDU-Oppositionsführer Helmut Linssen – vorführen zu können. Der Schuß ging nach hinten los.

Für Johannes Rau entpuppte sich diese völlig überdrehte CDU- Kampagne als ein Segen. In dem anschließenden Mediengetümmel geriet Raus unrühmliches Spiel um die Wahlkampfhilfe schnell aus dem Blickfeld, ging es doch nun darum, den Präsidentschaftsbewerber vor den viel schlimmeren CDU-Verleumdungen zu schützen und die große Schlacht um die sozialliberale Ostpolitik erneut zu schlagen. Am Ende stand Rau wieder als der gute Mensch aus Wuppertal da, als Opfer einer üblen Schmutzkampagne. That's Rau!

Nein, so blütenweiß, wie die sozialdemokratischen Hofdichter Raus Weste seit Jahren zu beschreiben suchen, ist sie gewiß nicht, aber mit Rau als Bundespräsident stünde jemand an der Spitze Deutschlands, für den das Kriegsende am 8. Mai 1945 zugleich „der Tag der Befreiung und der Tag der deutschen Niederlage ist, nicht eine von außen über uns gekommene Katastrophe, sondern die Folge eines von uns selber bewirkten Unheils“. Rau verstand Politik immer als den Versuch, in kleinen Schritten „das Leben der Menschen etwas menschlicher zu machen“. Mehr nicht! Ein auch die Niederlage nicht scheuender programmatischer Tabubrecher war er nie. Als dienstältester Ministerpräsident geht Rau in die Geschichte als ein Regierungschef ein, der reformerische Impulse, zum Beispiel im Bildungsbereich, aufgenommen und vorsichtig, manchmal ängstlich, administriert hat. Zu den großen Utopien und Versprechungen von Sozialisten und Marxisten wahrte er zeitlebens Distanz. Er mißtraute ihren Heilslehren: „Wer den Himmel auf Erden verspricht, der schafft die Hölle, der geht über Leichen, der kann gar nicht anders, als mit dem Blick auf das, was angeblich kommt, das, was jetzt ist, geringzuachten.“

Die Menschen beflügelnde Visionen böte der Wuppertaler Menschenfischer, der sich wie kein anderer zum Staatsoberhaupt berufen fühlt, gewiß auch als Präsident nicht, aber Walter Jens liegt richtig, wenn er von einem Bundespräsidenten Rau erwartet, „das friedliche, das humane, das bescheidene, das erzliberale Deutschland“ zu repräsentieren.