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: Ein mathematisches Genie

Südindien, Anfang dieses Jahrhunderts: Srinivasa Ramanujan, ein junger Inder aus einer armen, aber nach den Regeln der Kastengesellschaft angesehenen Brahmanenfamilie, hat es geschafft, mit einem Stipendium in ein College aufgenommen zu werden. Dort scheiterte er jedoch, weil er sich nur für ein Fach interessiert – Mathematik. Trotz seiner unzweifelhaften mathematischen Begabung muß er das College verlassen.

Aber die Mathematik läßt ihn nicht los. Er arbeitet fieberhaft, füllt Notizbücher mit nur ihm verständlichen Formeln und findet schließlich Kontakt zu indischen Mathematikern. Auf ihren Rat hin wendet er sich brieflich an britische Mathematikprofessoren. Zwei Cambridger Professoren wissen mit Ramanujans formelgespicktem Brief nichts anzufangen, ein ditter jedoch, G.H. Hardy, ist fasziniert und erreicht, daß Ramanujan als Stipendiat nach Cambridge geschickt wird.

Auch Hardy hatte sich den Weg zum College erkämpfen müssen. Auch von ihm wurde verlangt, sich auf etwas außerhalb seines Interessengebietes zu konzentrieren. Hardy paukte zwei Jahre, bestand und wurde ein angesehener Mathematiker. Hardys Stärke waren exakte Definitionen und korrekte Beweise. Ramanujan hingegen lieferte geniale Formeln und Sätze, jedoch meist ohne Beweis. Erstaunlicherweise ergab sich mit Ramanujans Ankunft in Cambridge im April 1914 eine intensive und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den beiden so verschiedenen Mathematikern, die jedoch eines gemeinsam hatten: die Liebe zur reinen, nicht auf Anwendungen ausgerichtete Mathematik.

Anfang 1917 wird Ramanujan krank. Vermutlich leidet er an Tuberkulose, einer damals oft unheilbaren Krankheit. In der Hoffnung, gesund zu werden, kehrt er nach dem Ende des Ersten Weltkieges nach Hause zurück, stirbt dort jedoch 1920. Seit dieser Zeit sind Mathematiker auf der ganzen Welt damit beschäftigt, seine Notizbücher auszuwerten, Formeln und Sätze zu überprüfen und zu beweisen. Bis heute ist diese Arbeit nicht abgeschlossen. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Robert Kanigel hat eine umfassende Biographie Ramanujans verfaßt, die sowohl seine Herkunft und seinen geistigen Hintergrund als auch seine mathematische Bedeutung beleuchtet. Kanigel schildert nicht nur Südindien, sondern auch Cambridge zur Zeit Ramanujans als eine uns fremde Welt. Er ruft in Erinnerung, welche Katastrophe der Erste Weltkrieg auch für die darstellte, die nicht unmittelbar an den Kämpfen beteiligt waren. Er geht auch auf die Bedeutung ein, die Ramanujan für das Selbstbewußtsein der Inder hatte, die gegen koloniale Unterlegenheitsgefühle kämpften. So ist ein faszinierendes Buch entstanden, das weit über das Thema Mathematik hinausreicht. Ute Finckh

Rober Kanigel: Der das Unendliche kannte. Das Leben des genialen Mathematikers Srinivasa Ramanujan. Vieweg-Verlag 1993, 331 Seiten, 58 DM