Bleibt Schirinowski ein Übergangsphänomen?

In Rußland betrachten sich alle Parlamentarier als Opposition / Dennoch trägt eine große Mehrheit die Politik der Regierung mit  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Zum dritten Mal innerhalb von sieben Monaten müssen die Abgeordneten des russischen Parlaments, der Duma, ihre Schreibtische zusammenpacken. Sie ziehen um in den Ochotnij Rjad, nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt. So hatten es sich die Volksvertreter gewünscht: näher heran an die Macht. Im Gebäude der alten sowjetischen Planungsbehörde (Gosplan) knarrt das ausgetretene Parkett, die Teppiche sind zerschlissen und die Mitarbeiter des hier zwischenzeitlich abgestiegenen Wirtschaftsministeriums haben fünf Etagen des Stalinbaus noch nicht einmal geräumt.

Die Abgeordneten sind wieder mal erbost: Wo bleibt da noch Zeit zur Arbeit? Vergleichbares hätte noch vor Jahresfrist zu Tumulten geführt. Heute übt sich die Volksvertretung in Mäßigung. Letzten Mittwoch segnete das Unterhaus in erster Lesung den Haushaltsentwurf der Regierung ab, ohne maßgebliche Kritik zu üben (s. Seite 7). Immerhin sahen sich die Ultranationalisten gezwungen, überraschten Beobachtern ihre Zustimmung als einen taktischen Schritt zu verkaufen: Alle Verantwortung läge jetzt bei der Regierung, die sich nicht mehr herausreden könne.

Unterm Strich ist es einerlei. Das Parlament trägt das Budget und damit auch die Eckdaten der Wirtschaftspolitik. Von Opposition in Rußland zu sprechen, fällt darum heute schwer. Wer steht zu wem und was in Opposition? Präsident Boris Jelzin klagt, er habe keine Macht, sein Premierminister Tschernomyrdin steht ihm darin nicht nach. Im Parlament verstehen sich dagegen alle als Opposition. Schließlich möchten sie frei von Verantwortung und Schuld in die nächsten Wahlen gehen.

Eigentümlicherweise gelingt ihnen genau das nicht. Nach und nach werden alle zu Mittätern. Die konsequenteste Opposition, einmal abgesehen von Clownerien des Faschisten Schirinowski, betreiben die Parlamentarier der Fraktion „Wahl Rußlands“ um Jegor Gaidar. Sie sind die größte Fraktion in der Duma und stellen immerhin einige der amtierenden Minister. Mit der Auswechslung ihrer führenden Köpfe in der Regierung nach den Wahlen aber übernahmen Leute die Verantwortung, die von ihrer Herkunft und Überzeugung den Kommunisten und Agrariern sehr nahestehen. Trotzdem unterscheidet sich die Linie des neuen Kabinetts kaum von der der Vorgänger-Regierung. Sprach man früher in der Sowjetunion von einer „leninschen Politik ohne Lenin“, so witzelt man heute über die „gaidarsche Politik ohne Gaidar“.

In der Tat hat die Duma in den drei Monaten ihres Bestehens der Regierung keine ernstzunehmenden Versäumnisse vorgeworfen. Als das Parlament Ende Februar die Meuterer des Oktoberaufstands amnestierte, schien eine neue Konfrontation zwischen Jelzin und der konservativen Dumamehrheit ins Haus zu stehen. Die Rädelsführer vom Herbst, Alexander Ruzkoi und Viktor Anpilow, ließen keine Gelegenheit verstreichen, sich wieder ins Gespräch zu bringen, ohne aber den Zenit ihrer Popularität noch einmal zu erreichen.

Die Initiative Jelzins, einen Pakt für den Bürgerfrieden zu schaffen, beantwortete ein Teil der Opposition schon im März mit der Gründung der Bewegung „Einigkeit im Namen Rußlands“, die nach ihrer Gründungsveranstaltung von sich kaum noch reden machte. Ein relativ breites Spektrum politischer Organisationen trat ihr bei. Die größte unter ihnen ist die „Nationale Rettungsfront“. Sie beherbergt in ihren Reihen auch militante Regierungsgegner wie den Vorsitzenden des „Offiziersbundes“, Nikolai Terechow, der im Herbst einen Anschlag auf den Generalstab unternahm, bei dem einige Menschen ums Leben kamen.

Der Front gehört auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Rußlands, Gennadi Sjuganow, an. Daneben der Chefredakteur des ultrarechten antisemitischen Hetzblattes Sawtra, Alexander Prochanow, und Sergej Baburin. Baburin ist ein bekannter und einflußreicher Parlamentarier noch aus Zeiten des russischen Volksdeputiertenkongresses. Seine Partei, die Russische Völker Union, will die UdSSR auf einheitlicher Grundlage wiedererrichten. Er ist einer der Ideologen der russischen Reichsidee versetzt mit sozialistischen Elementen. In die „Nationale Rettungsfront“ stieg auch der Vorsitzende der „Volkspartei freies Rußland“, Wassili Lipizki, ein. Ursprünglich hatte sich die Volkspartei als eine sozialdemokratische Partei ausgegeben, die im Zentrum der politischen Kräfte Rußlands angesiedelt sein wollte. Mit dem Putsch ihres Vorsitzenden, der Gallionsfigur Alexander Ruzkoi, verließ die Partei im Herbst die zentristische Linie. Mit von der Partie sind auch eine Reihe von Vertretern der ehemals zentristischen Bürgerunion, die bei den Wahlen im Dezember eine riesige Schlappe erlebte.

Selbst Politologe Alexander Zipko aus dem Gorbatschow- Fonds war sich nicht zu schade, der neuen nationalistischen Bewegung beizutreten. Waleri Sorkin, abgesetzter Verfassungsrichter, der sich offen in die Politik zugunsten der reaktionären Kräfte eingemischt hatte, tauchte ebenfalls aus der Versenkung auf. Die offen faschistischen, antisemitischen und militant nationalistischen Gruppierungen wirken offiziell noch nicht mit. Allerdings läßt die personelle Verknüpfung über die Nationale Rettungsfront Zweifel an der friedlichen Linie der Bewegung aufkommen. Im Vorstand der Front sitzt immerhin der Vorsitzende der Nationalrepublikanischen Partei Nikolai Lysenko, einer der radikalsten Rechtsgruppierungen, die kein Hehl aus ihrem faschistischen und rassistischen Gedankengut macht.

Schon vor der Bewegung hat es unzählige Zusammenschlüsse rechtsorientierter, ultranationalistischer und rassistischer Organisationen gegeben. Viele überstanden gerade mal ihren Gründungstag, um dann in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. Über 80 radikale Parteien, Organisationen und Versammlungen wurden in diesem Spektrum gezählt. Zum Teil sind sich die Führungsköpfe untereinander spinnefeind. Zumindest darin besteht eine Gewähr, daß ihr Einfluß nicht überhandnimmt.

Während der Feierlichkeiten zum 1. und 9. Mai in Moskau hatten nationalistische und kommunistische Veranstalter der Großdemonstrationen mit über hunderttausend Teilnehmern gerechnet. Es kam aber nur ein Bruchteil. Offenkundig wenden sich viele von dem latenten Konfrontationskurs der Rechten ab. Innerhalb der Bewegung beginnt ebenfalls eine gewisse Ausdifferenzierung, die sich erst auf den zweiten Blick zeigt.

Die meisten der im Parlament vertretenen Parteien gingen auf Jelzins Bürgerfrieden ein. Der sieht vor, daß die politischen Kontrahenten sich bis zu den Präsidentschaftswahlen 1996 verpflichten, auf gewalttätige Methoden zur Umsetzung ihrer politischen Ziele zu verzichten, keine Hetze betreiben noch Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen erheben.

Die Kommunisten unterschrieben die Vereinbarungen nicht. Aber ihr Vorsitzender Sjuganow war bei der Unterzeichnung zugegen. Wäre es nach ihm gegangen, hätten die Kommunisten dieses Moratorium wohl unterzeichnet. Seit langem gärt es in der Kommunistischen Partei. Will Sjuganow nicht seinen Posten verlieren, muß er auf die einflußreichen Altbolschewiken noch Rücksicht nehmen. Unter der alten Garde genießt besonders Dichter und Gorbatschow- Putschist Anatoli Lukjanow gehörigen Einfluß.

Funktionäre der jüngeren Generation sprechen es hinter vorgehaltener Hand dennoch aus. Mit dem Abtritt der Alten wird sich die Kommunistische Partei in eine Partei sozialdemokratischer Orientierung wandeln. Aus taktischen Überlegungen scheinen die Befürworter eines Richtungswechsels den Prozeß jetzt nicht forcieren zu wollen. Immerhin saß ihr Erster Sekretär bei der Versöhnungszeremonie schon mit am Tisch.

Innerhalb des kommunistischen Spektrums ist ein deutlicher Riß zu beobachten. Die Kommunisten im Parlament achten hochnotpeinlich auf die Einhaltung des rechtlichen Rahmens. Ihre Ziele wollen sie vornehmlich über den parlamentarischen Weg erreichen. Der Druck durch die Straße zählt nicht mehr zum bevorzugten Mittel. Das hat sie in Gegensatz zu den kommunistischen Splittergruppen außerhalb des Parlaments gebracht. Der endgültige Bruch mit dem „Trudowaja Moskwa“, dem „arbeitenden Moskau“ des Viktor Anpilow ist nur eine Frage der Zeit.

Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich auch bei den Agrariern ab. In ihrer ideologischen Ausrichtung stehen sie den Kommunisten sehr nahe. Viele sind sogar Mitglieder der einen wie der anderen Partei. Sie weigerten sich ebenfalls, den Jelzinschen Pakt zu unterzeichnen, jedenfalls als Fraktion der Duma. Ihr Führungsmann, Iwan Rybkin, wagte dann einen Vorstoß. In seiner Funktion als Vorsitzender des Unterhauses des Parlaments setzte er seine Unterschrift unter den Pakt. Die Duma einschließlich der eigenen Fraktion hatte ihm vorher ihr Plazet gegeben. Mittlerweile trägt sich die Fraktion ebenfalls mit dem Gedanken. Rybkin spielt dabei eine zentrale Rolle. Ihm gefällt seine neue einflußreiche Funktion, die er auf jeden Fall behalten möchte.

Im Gegensatz zu seinem putschenden Vorgänger Ruslan Chasbulatow simuliert er nach außen den neutralen, parteilosen Vorsitzenden, der nur das Ganze — den Staat — im Auge hat. Während man in der Präsidentenadministration noch darüber nachdachte, ob man Alexander Ruzkois Äußerungen über die Wiedererrichtung der Sowjetunion in einem Jahr auf der Demonstration am 9. Mai ahnden solle, schuf Rybkin Tatsachen. Er übergab die Angelegenheit sofort dem Generalstaatsanwalt. Natürlich verstieß Ruzkoi mit seinen revanchistischen Äußerungen gegen die Verfassung. Aber wer nimmt sie schon so buchstabengetreu?

Wäre der Glaube an die Verfassung schon ein fester Bestandteil im Denken der politischen Klasse, hätte sich Jelzin seinen Bürgerpakt sparen können. Eigentlich verpflichtet die Verfassung zu gewaltfreiem Vorgehen. Der Bürgerpakt wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen. Dennoch strömen immer noch Organisationen, Verbände und Berufsgruppen in den Kreml, um zu unterschreiben und nicht außen vor zu bleiben. Das Vertrauen in die Verfassung ist schwach ausgebildet. Nach alter russischer Tradition des 14. und 15. Jahrhunderts schließen die (fürstlichen) Kontrahenten über den Pakt quasi Einzelbündnisse. Man traut nur dem, mit dem man eigens eine Übereinkunft getroffen hat.

Darüber hinaus schafft der Bürgerfrieden natürlich eine breite Koalition oder gar Konsens derjenigen Kräfte, die sich tatsächlich zu einem anderen Umgang in der politischen Arena verpflichten. Sofort zeigte sich, wer zum Kreise der „unversöhnlichen“ Opposition gehört. Es werden spürbar weniger. Der Dampf aus den politischen Händeln ist raus, will es scheinen. Kommunisten und Agrarier wollen die Räder auch nicht mehr zurückdrehen. Selbst sie treten nicht mehr gegen Privateigentum an. Sie wollen eben nur beteiligt sein und etwas vom Kuchen abbekommen.

Die Ausdifferenzierung der einstmals breiten ideologischen Spektren beginnt. Die Gefahren, der Reformprozeß könnte rückgängig gemacht werden, schwinden gleichzeitig durch die gegenseitige Absorption der Kräfte. Das ultrarechte Lager ist ohnehin sehr zerstritten. Dessen federführende Figuren wollen alle Pantokratoren sein. Sich im Interesse ihrer Sache einer anderen Leitfigur unterzuordnen, fällt ihnen gar nicht ein. Keine dieser Gruppen und Grüppchen verfügt über einen Mann wie Wladimir Schirinowski. Selbst dieser aggressive Faschist mäßigt sich ein wenig und buhlt darum, salonfähig zu werden. Nicht zuletzt deswegen unterzeichnete auch er den Bürgerfrieden.

Sein überraschender Wahlerfolg hat ihn mit einer gehörigen Portion Selbstbewußtsein ausgestattet. Nun glaubt er, die Präsidentschaft 1996 falle ihm automatisch in den Schoß. Diese Hoffnungen teilt er mit einer ganzen Reihe sogenannter Oppositioneller im Parlament. Macht Alexander Ruzkoi allerdings seine Ankündigung wahr, 1996 für die Präsidentschaft zu kandidieren, wird Schirinowski das zu spüren bekommen. Ohnehin hat seine Popularität erheblich nachgelassen. Stimmen die Angaben einer Kommission, die den Ergebnissen der Dezemberwahlen nachgeht, haben ihm regionale Funktionsträger aus Ärger gegen die Moskauer Zentrale ohnehin sechs Millionen Stimmen zugeschustert, zwei Millionen Zettel der jelzinnahen Wahl Rußlands dagegen unter den Teppich gekehrt. Mit knapp zehn Prozent hätte Rußland dann ein rechtsradikales Wählerpotential wie andere Länder Europas auch.

In der Liberaldemokratischen Partei (LDP) macht sich seit längerem Unmut über den Führungsstil Schirinowskis breit. Bekannte Mitstreiter verließen die Partei oder zumindest den engen Kreis um den Führer. Einige versuchen, der Partei in der Provinz ein anderes Gesicht zu verleihen. Es wird ihnen voraussichtlich nicht gelingen, aber die Schlagkraft der Partei auch nicht fördern.

Es sieht immer mehr danach aus, als sei Schirinowski ein Übergangsphänomen. Er verbreitet das Gespenst des Faschismus, deswegen geht es in Rußland aber noch lange nicht um. Mit einem Wort: Wenn alle in Opposition sind, gibt es keine.