Chinesische Welten und der Traum vom Glück

China – ein Land im Umbruch, in dem der spektakulärste Wirtschaftsboom der Welt mit einem höchst verletzlichen Nationalstolz koexistiert / Alles ist grenzenlos: Reichtum, Armut, Zweifel und Zuversicht  ■ Aus Peking Jutta Lietsch

Daß die chinesischen Behörden alljährlich im Frühjahr einige prominente Dissidenten aus der Haft entlassen, ist schon fast zur Routine geworden. Zur milden Jahreszeit will die chinesische Führung stets ein wenig milder erscheinen als sonst. Denn immer am 3. Juni enden die jeweils für ein Jahr gewährten Zollvorteile für chinesische Importe in die USA. Bis dahin muß der US-Präsident entscheiden, ob er die sogenannte Meistbegünstigungsklausel verlängern will – zufällig einen Tag bevor sich die Niederschlagung der demokratischen Proteste von Tiananmen 1989 jährt. Und Bill Clinton macht diese Entscheidung von „umfassenden und signifikanten“ Verbesserungen der chinesischen Menschenrechtspolitik abhängig.

Doch in diesem Jahr haben Chinas Behörden gegen diese Regel verstoßen. Zwar kommen in den letzten Tagen und Wochen immer wieder einzelne DissidentInnen vorzeitig aus der Haft, doch gleichzeitig werden neue zu Dutzenden zum Verhör abgeholt. Warum? Dieser Frage in Peking nachzugehen ist ausgesprochen schwierig. „Laßt uns das nicht am Telefon besprechen“, bittet eine langjährige Bekannte. Sie hat sich früher immer über Leute mokiert, die sich ständig sorgten, abgehört und bespitzelt zu werden. Nun sagt sie: „Reden wir lieber draußen, im Restaurant.“

Kaum sitzen wir im Bus, nimmt sie kein Blatt mehr vor den Mund. Die Verhaftungswelle, meint sie, ist auf eine große Unsicherheit innerhalb der Regierung zurückzuführen. Und die sei stärker als außenpolitische Erwägungen und wirtschaftliche Interessen.

Viel spricht dafür, daß diese Bemerkung zutrifft. Nicht einmal während der Staatsbesuche von US-Außenminister Warren Christopher und Frankreichs Premierminister Edouard Balladur schreckten die Behörden davor zurück, prominente Dissidenten abzuholen. Dabei waren beide Politiker nach China gekommen, um die diplomatischen Beziehungen zu glätten und um die Geschäfte zu fördern.

Informationen zirkulieren heute viel schneller in China als vor sechzehn Jahren, als Deng Xiaoping mit seiner Reformpolitik begann. Das Telefonnetz ist ausgebaut, Faxgeräte, mobile Telefone und E-Mail breiten sich aus. Die chinesische Gesellschaft ist offener geworden. Und dennoch bleibt die politische Spitze des 1,2-Milliarden-Landes bis heute eine Black box. Also wird spekuliert. „Mein Bekannter aus dem Wirtschaftsministerium spricht von einem Machtkampf zwischen Außenministerium und Sicherheitsbüro“, sagt einer. „Mein Freund im Außenministerium spricht von Konflikten zwischen alten und neuen Fraktionen im Politbüro“, erklärt jemand anders. „Der Konflikt um die Nachfolge Deng Xiaopings verschärft sich!“ weiß ein Dritter.

Im Reich der Pessimisten...

Die Regierung in Peking fürchtet sich offensichtlich vor dem Ausbruch von Unruhen. Zwar liegt das Wirtschaftswachstum weiterhin bei über 10 Prozent pro Jahr. Doch in der Bevölkerung steigt der Unmut darüber, daß nur eine kleine Schicht vom anhaltenden Boom profitiert. In der Stadt wird das Leben immer schwieriger, weil die Kosten für Nahrungsmittel, Schulen, Krankenversorgung für viele unerschwinglich werden.

Auf dem Lande verlieren viele ihre Existenzgrundlage, denn der landwirtschaftlich nutzbare Boden wird immer knapper. 130 Millionen der 800 Millionen LandbewohnerInnen, sagt die Regierung, werden in den kommenden Jahren in die Städte ziehen und in Industrie oder Dienstleistungssektor untergebracht werden müssen.

„Die Regierung fürchtet, daß Unruhen nicht von städtischen Intellektuellen und StudentInnen ausgehen könnten, sondern von ArbeiterInnen und BäuerInnen“, sagt die Bekannte. Anders als 1989 haben einige Dissidenten bereits begonnen, sich mit Rechts- und Organisationsberatung um die Situation von ArbeiterInnen zu kümmern. In einigen der zahlreichen Petitionen, die im März an die Delegierten des Nationalen Volkskongresses gerichtet wurden, wurde auch die Forderung nach Streikrecht, unabhängigen Gewerkschaften und freien Bauernvereinigungen erhoben.

Nach dem Willen von Polizeiminister Tao Siju sollen die Befugnisse der Behörden, gegen „Aktivitäten nicht registrierter Vereinigungen“ vorzugehen, noch mehr ausgeweitet werden. Diese Maßnahme richtet sich gegen Menschenrechtsvereinigungen wie jene in Schanghai, deren Mitglieder inzwischen festgenommen wurden, aber auch gegen Organisationen von Protestanten oder Moslems, die gegenwärtig als religiöse Minderheiten mit besonderer Schärfe verfolgt werden.

Wer – wie der 1993 nach über 14 Jahren Haft freigelassene Dissident Wei Jingsheng – gegen die „Überwachungsbestimmungen“ verstößt und sich politisch äußert, muß mit noch härteren Konsequenzen rechnen als früher. Wei ist seit März wegen „neuer Verbrechen“ in Haft. Die Behörden beobachten seinen Einfluß in der immer noch kleinen und zersplitterten Dissidentenszene mit großem Mißtrauen.

Aus dem Finanzministerium kam im April die Warnung vor Unruhen in verschiedenen Regionen, wo man den Angestellten staatlicher Firmen und Institutionen längere Zeit keinen Lohn ausgezahlt hatte. „Tut mir leid, Lehrer, unser Budget ist so knapp“, lautet in der gleichen Zeit die Unterschrift unter einer Karikatur in der China Daily (siehe Abbildung). Sie zeigt einen abgemagerten und spitznasigen Schulmeister neben einem dicken Mercedes mit abgedunkelten Scheiben. Ein rundlicher Funktionär reicht statt des Gehaltes einen Schuldschein heraus. Davon hat der Lehrer schon einige unterm Arm.

„In diesem Jahr wird es noch mehr Streiks und Proteste geben als 1993“, heißt es in der chinesischen Hauptstadt. Nach einem internen Bericht des Ministeriums für öffentliche Sicherheit haben die Lauscher der Behörde im vergangenen Jahr Hunderte von „Unruhen und Rebellionen“ und über sechstausend organisierte Arbeitsniederlegungen oder Bummelstreiks registriert. Andere Quellen sprechen von über zwölftausend Streiks.

Auf einer Pekinger Konferenz über die Lage des Arbeitsmarktes im April wurde nach einem Bericht der Jugendzeitung eine Versechsfachung der gemeldeten städtischen Arbeitslosen seit 1992 konstatiert. Bis Ende dieses Jahres werde ihre Zahl auf elf Millionen gewachsen sein. Diese Statistik erfaßt aber nicht die Landflüchtigen und SchulabgängerInnen. Sie rechnet auch nicht mit jenen, die offiziell noch bei einer staatlichen Einheit angestellt sind, um ihren Anspruch auf billige Wohnungen und Krankenversicherung nicht zu verlieren – die aber von ihren Betrieben nur noch einen geringen Unterhaltszuschuß oder überhaupt kein Geld mehr erhalten. Fast die Hälfte der Staatsbetriebe schreibt heute rote Zahlen. Und zwei Drittel der 11.000 staatlichen Großbetriebe mit über tausend Beschäftigten können nur weiterarbeiten, weil die laufenden Kosten aus dem öffentlichen Haushalt finanziert werden.

... und der Optimisten

Doch macht das alles eine Krise aus? Mit der gleichen Sicherheit, mit der die einen gefährliche Unruhen vorhersagen – spätestens nach dem Tode von Deng Xiaoping –, erklären andere dies für grundlose Schwarzmalerei. „Es wird keine großen Unruhen geben“, meint der chinesische Geschäftsführer einer Pekinger Werbefirma, „jedenfalls nicht, solange die Leute hoffen, früher oder später selber etwas vom Kuchen abzubekommen.“ Diese Hoffnung sei allgegenwärtig. Daher gebe es keine Basis für eine organisierte Opposition. „Schauen Sie sich doch mal um! Gut, die Leute werden entlassen, es gibt Arbeitslosigkeit. Aber die Aussichten auf neue und bessere Arbeitsmöglichkeiten sind gut.“

Der Vierzigjährige hat sich vor wenigen Jahren selbständig gemacht und verfügt über ein großzügiges Büro, Beeper, mobiles Telefon, Privatwagen und ein Grundstück am Stadtrand, wo er sich später ein Haus bauen will. Er liest aus beruflichen Gründen täglich mehrere chinesische Wirtschaftsblätter, kauft ab und zu amerikanische oder Hongkonger Zeitungen und hat auch eine taiwanesische Zeitschrift abonniert. Dafür braucht er zwar eigentlich eine behördliche Genehmigung, sagt er, aber die staatlichen Importfirmen kümmerten sich nicht darum: „Die sind einfach scharf auf Devisen.“

Seine Angestellten erhalten ein gutes Gehalt – ohne Sozialleistungen. Natürlich müßte er eigentlich für sie Beiträge in die neugeschaffende Rentenkasse einzahlen. Doch er kann sicher sein, daß seine Leute das nicht einklagen. Und die Behörden werden nicht gegen ihn vorgehen. „Sie wissen, daß ich das jetzt noch nicht aufbringen kann“, sagt er.

Ganz ähnlich die etwa 55jährige Chefin einer privaten Druckerei, die Diskussionen über Altersversorgung für ihre ArbeiterInnen für überflüssig hält: „Die Leute wollen das Geld bar auf die Hand“, sagt sie. „Wenn es ihnen bei mir nicht mehr gefällt, dann streiken sie nicht, sondern sie kommen einfach nicht mehr.“

Heute, fünf Jahre nach Tiananmen und den Schüssen auf die Demonstranten, wisse er, daß man sich bei den damaligen Verurteilungen geirrt habe, erklärt der Werbefachmann. Bei aller Kritik an der Regierung und an der Brutalität ihres Vorgehens gegen die Protestierenden im Juni 1989 stimmt der Unternehmer jetzt denen zu, die meinen, daß die Regierung damals gar keine andere Wahl gehabt habe: Sie habe die Kontrolle zurückerobern müssen. „Die Leute, die hier jetzt dauernd Menschenrechte und Demokratie fordern“, sagt er, „die reden euch Ausländern nur nach dem Mund. Natürlich gibt es willkürliche Verhaftungen. Aber das gehört einfach zu einer solchen Periode des Übergangs, genau wie Korruption, Spekulation und Kapitalflucht.“

Er glaubt, daß die Demokratisierung sich schon als Folge der Modernisierung und des wachsenden Wohlstandes einstellen wird, wie in Taiwan, Korea und Thailand. „Ihr regt euch auf, daß wir die Todesstrafe haben. Ich hingegen finde es gut, daß jemand wie Shen Taifu nicht mehr davonkommt.“ Der Chef der „Great Wall Company“ wurde im April wegen Millionenbetrugs hingerichtet. Im gleichen Zusammenhang wurde der stellvertretende Leiter der staatlichen Technologiekommission zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Das sei ein Fortschritt. Früher habe es nicht einmal die entsprechenden Rechtsvorschriften gegeben.

Heute gebe es nicht nur mehr Gesetze, sondern sie würden zumindest manchmal auch angewendet. „Und in fünfzehn Jahren brauchen wir die Todesstrafe vielleicht nicht mehr.“

Welten trennen diesen Werbefachmann von manch anderem Chinesen. „Mao ist ein Geist“, sagt ein Taxifahrer. „Er hatte Macht. Er konnte mit einem Wort das ganze chinesische Reich erschüttern. Deng auch. Guck dir doch die heutige Generation an. Die redet und redet, und niemand hört auch nur hin.“ Mit der heutigen Generation meint der Fahrer die Sechzigjährigen, wie Staats- und Parteichef Jiang Zemin und Premierminister Li Peng.

Der grimmig blickende Mann hat immer noch den Schutzpatron Mao am Rückspiegel hängen. Doch wenn das Gespräch auf den 89jährigen Deng Xiaoping kommt, sagen alle das gleiche – der Taxifahrer wie der Werbeprofi: daß Deng – von dem man nicht weiß, wie weit er noch eigener politischer Aussagen oder gar Aktivitäten fähig ist – mächtig sei. Daß er ein großer Mann sei, der China in der Welt zur Anerkennung verholfen habe. Daß er es geschafft habe, eine Entwicklung wie in Jugoslawien oder der Ex-Sowjetunion zu vermeiden. Und alle sind sich ganz sicher, daß Deng dies trotz aller Widerstände des Westens – vor allem der USA – vermocht hat.

Es ist schwer, in China jemand zu finden, der glaubt, daß es den USA – oder auch den Briten mit ihrer Hongkong-Politik – wirklich nur um Demokratie und Menschenrechte geht. Viele sind felsenfest davon überzeugt, daß die US-Politiker und ihre Kollegen in London vor allem ein Ziel haben: zu verhindern, daß China ein wirtschaftlich starkes und international respektiertes Land wird.

Damit hat es die Kommunistische Partei Chinas mit ihren über 50 Millionen Mitgliedern offenbar vermocht, den Verlust ihrer politischen Glaubwürdigkeit zumindest teilweise zu kompensieren. Niemand glaubt ernsthaft noch daran, daß ihre Führer sozialistischen Idealen verpflichtet sind. Aber die KP stellt sich erfolgreich als einzige und unersetzbare Garantin staatlicher Autorität und nationaler Souveränität dar. Als eine Kraft, die das Land vor dem Zerfall bewahrt. Auch wenn man weiß, daß hohe Parteifunktionäre ihre Kinder in die USA oder nach Europa schicken, um dort zu studieren oder Geschäfte zu machen. Und ungeachtet der verbreiteten Gerüchte über Kader, die mit Koffern voller Geld und Gold ins Ausland reisen, um dort ihr Konto für die eigene Zukunftssicherung zu füllen.

Die Bereicherung der Parteikader wird nicht unbedingt gern gesehen, scheint aber letztendlich als eine gewisse pragmatische Haltung in persönlichen Angelegenheiten gesehen zu werden, die in den Augen der Bevölkerung keinesfalls die unverbrüchliche Loyalität der Partei und ihrer Mitglieder zu China in Frage stellt.

Falls sich US-Präsident Bill Clinton im Juni wider Erwarten dafür entscheiden sollte, die Meistbegünstigung für Importe aus China nicht zu verlängern, könnte das somit kurzfristig ein paradoxes Ergebnis haben: Eine chinesische Regierung, die sich jetzt frei fühlt, noch schärfer gegen Oppositionelle vorzugehen, und eine Bevölkerung, die ihren Zorn über Korruption und Privilegienwirtschaft in der Partei zumindest eine Zeitlang wieder verdrängt – und die Schuld für wirtschaftliche Schwierigkeiten beim feindseligen westlichen Ausland weiß.