: Lautloses Kojak-Fieber beim Alarmeinsatz
■ Streifenwagen fuhr Schülerin an / Polizist wg. Körperverletzung vor Gericht
„Es hätte nicht passieren dürfen.“ Reumütig sitzt der Polizeibeamte Achim Sch. auf der Anklagebank des Verkehrsgerichts. Vorwurf: „Fahrlässige Körperverletzung.“ Der Polizist hatte während einer Einsatzfahrt bei Rot ohne Martinshorn eine Ampel überquert und dabei die 14jährige Schülerin Daniela umgefahren. Eine von 445 Karambolagen, an denen Polizeiwagen 1992 beteiligt waren, einer von 208 Unfällen, die von Beamten verschuldet worden sind.
Oft sieht die Realität so aus: Wenn der Michel-Sprecher aus der Polizeieinsatzzentrale einen Bagatell-Auftrag vergeben möchte, reißt sich keine Peterwagenbesatzung darum. Aber wenn es beispielsweise heißt: „Alarmauslösung Ost-West-Straße – Sonderrechte unter Beachtung der besonderen Sorgfaltspflicht sind zugelassen“, überschlagen sich die Funksprüche, bei vielen BeamtInnen bricht das Kojak-Fieber aus: „Der 12/2 fährt.“ - „Der 12/1 auch!“ - „Der 13/3 ebenfalls.“ - „Der 13/2 dito“. - „Der 14/3 zieht auch mal mit rüber.“
Ob Achim Sch. auch zu denjenigen Polizisten gehört, die gerne mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt jagen, blieb im Prozeß unklar, obwohl gerade sein Unfall eine Diskussion über die Raserei im Streifenwagen entfachte. Was war geschehen? Der „Peter 35/2“ bekam in den Mittagsstunden des 27. Juli 1992 über Funk einen Einbruchsalarm in Bergstedt gemeldet. Achim Sch. schaltete Blaulicht und Martinshorn an und überquerte zwei rote Ampeln. Am Heegbarg näherte er sich einem weiteren Fußgängerüberweg, als die Ampel gerade auf Rot sprang. Achim Sch.: „Die Fußgänger blieben stehen, obwohl sie Grün hatten. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich erkannten.“ Da Polizisten eingebleut wird, in der Nähe des Tatorts „aus taktischen Gründen“ kein akustisches Signal mehr zu geben, um den Einbrecher nicht zu verscheuchen, betätigte der 32jährige Polizist das Martinshorn nicht mehr.
Ein verhängnisvoller Fehler: Denn Daniela hatte den Peterwagen nicht gehört und gesehen und trat in die Pedale - schließlich hatte sie Grün. Achim Sch.: „Ich versuchte noch, zu bremsen und nach links auszuweichen.“ Doch zu spät. Daniela knallte bei Tempo 50 mit dem Kopf gegen den Polizeiwagen und stürzte zu Boden. Folge: Platzwunde und Gehirnerschütterung.
Eigentlich ein klarer Fall: Denn auch bei Einsätzen mit Sonderrechten dürfen Streifenwagen nur dann bei Rot Fußgängerüberwege und Kreuzungen passieren, wenn sie vorher anhalten und der fließende Verkehr ihnen Vorfahrt gewährt. Auch sollte das Tempo bei einer Fahrt mit Sonderrechten 80 Stundenkilometer nicht überschreiten. Blaulicht und Martinshorn sind also kein Persilschein, um bei Rot über die Kreuzung zu brettern.
In der Tat befinden sich allerdings die Streifenwagen- und auch die Rettungswagenfahrer oft in einem Zwiespalt: Einerseits sollen sie den Einsatzort schnell erreichen und bewußt gegen die Verkehrsregeln verstoßen, andererseits dürfen sie bei ihren Fahrten niemanden gefährden.
Und da sind manche junge PolizistInnen überfordert. „Die Beamten sind kaum nachvollziehbarem psychischen und physischen Streß ausgesetzt“, versucht Verteidiger Michael Bertling den Polizisten in Schutz zunehmen. Daher treffe zwar Achim Sch. die Schuld am Unfall, er habe sich aber strafrechtlich nicht schuldig gemacht.
Das Auffällige ist allerdings, daß gerade Polizisten wesentlich mehr Unfälle bauen als Rettungswagenbesatzungen, obwohl die wesentlich mehr Einsatzfahrten absolvieren. So legten im Vergleichsjahr die Hamburger Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge über 3,5 Millionen Kilometer zurück, waren jedoch nur an 231 Unfällen beteiligt. Und von denen war lediglich ein Bruchteil von den Fahrern selbst verschuldet.
Für Achim Sch. ging der Fall gestern glimpflich aus: Das Verfahren wurde gegen Zahlung von 1500 Mark an ein SOS-Kinderdorf eingestellt. Und dies nicht zuletzt, weil Daniela vor Gericht ein gutes Wort einlegte. „Ich möchte dem Fahrer keine Vorwürfe machen. Ich bin ihm auch nicht böse.“
K. v. Appen / M. Schneider
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