Zungenküsse, statistisch erfaßt

Jörg Tremmel hat das Sexleben seiner Mitschüler ausgeforscht: Nix mit „Sweet Little Sixteen“  ■ Von Andreas Becker

Bis kurz vor meinem 18. Geburtstag faßte ich jedes Jahr zu Sylvester den gleichen Vorsatz: Im nächsten Jahr will ich endlich mit einem Mädchen schlafen. Wann das losging, weiß ich nicht mehr so genau, aber ich glaube schon mit 14.

Zwischen diesen beiden Fixpunkten liegt für jeden eine qualvolle Epoche: die Zeit der „Sexualnot“ oder auch „Pubertät“. Untersuchungen über jugendliche Sexualwünsche und Realitäten gibt's zuhauf, noch nie aber hat ein Jugendlicher selbst versucht, seine eigene Generation auszuforschen.

Jörg Tremmel, Autor von „Sweet Little Sixteen – Jugend und neue Sexualmoral“ hat im zarten Alter von Siebzehn im Matheunterricht heimlich mitgeschrieben. Seine Aufmerksamkeit galt dabei aber weniger öden Gleichungen, sondern den lüsternen Blicken seiner MitschülerInnen. Nebenbei quälte er sich über vier Jahre durch rund 25.000 Seiten Masters & Johnson, Kinsey-Reports und Grundlagen der Sexualforschung. In seinem nun vorliegenden Buch entschuldigt er sich bei seinen ehemaligen Mitschülerinnen, daß er immer so neugierig nach ihrem neuesten Freund fragte und ob „Es“ inzwischen geklappt habe. Unser Forscher forschte gern im geheimen. Und die Schulleitung hat er über sein Vorhaben natürlich auch nicht informiert.

Die hätte Tremmels akribische Aufzeichnungen über die ersten Lesben in der 8. Klasse wahrscheinlich sowieso nur mißverstanden: „Damals befriedigten sich zwei Mädchen aus meiner Klasse gegenseitig während des Unterrichts mit einem Stift. Dazu setzten sie sich in die letzte Reihe, und eine begann mit einem Stift auf der Hose der anderen auf und ab zu fahren. Schließlich näherte sie sich mit kreisförmigen Bewegungen dem Genitalbereich der anderen, was aufgrund des dort engsitzenden Jeansstoffes das passive Mädchen stark erregte.“ Der lustvolle Zeitvertreib flog seinerzeit nicht wegen Farbflecken auf der Jeans auf, sondern durch ein etwas zu laut gehauchtes „Gleich kommt's“. Später hätten die Vierzehnjährigen „einen Freund gefunden“, werden wir beruhigt. Tremmel meint, dies seien die einzigen homosexuellen Handlungen an seiner Schule gewesen, „abgesehen von einigen Gerüchten, die ich aber für unwahr halte“.

Tremmel wagte eine wohl einmalige Mission und sammelte empirische Daten von 133 MitschülerInnen der 13. Klasse seines Gymnasiums zwischen 17 und 20 Jahren, die er 007-mäßig mit seinen persönlichen Beobachtungen abglich. Plausible Erklärung für seine Undercover-Empirie: Bei normalen Erhebungen würden die Schüler dauernd mogeln und mit Erfahrungen angeben, die sie aus der Bravo, aber nicht aus dem eigenen Jugendzimmer haben. Tremmel dagegen fragte bei zweifelhaften Sexualkontakten einfach auf dem Pausenhof den angeblichen Partner, ob der den Fall bestätigen könne. Erst dann machte er einen Haken in der Rubrik „Sexuelle Erfahrungen“. Und kam dabei auf eine viel höhere Onanierate als der Stern.

Und so sah es 1990 sexmaniacmäßig an Tremmels Schule aus: Zungenküsse: 87,5 % (Jungen), 91,5 % (Mädchen), Petting 80,4/80,9 %, Geschlechtsverkehr 64,3/72,3 %, Masturbation 98,2/ 63,8 %. Daß es bei den männlichen Onanisten nicht zu 100 % reichte, liegt offenbar an einem bedauernswerten Jungen, über den Tremmel nähere Informationen einholte: „Er konnte gemäß Angaben aus verläßlicher Quelle nur einmal in ca. 3 Monaten überhaupt zum Orgasmus kommen.“

Ziemlich traurige Bilanz: Nur knapp zehn Prozent hatten mehr als drei „Koituspartner“, was Tremmel schon „wildes“ Sexleben nennt. „Immerhin 35 % der Jungen und jedes vierte Mädchen hatten noch keinen Verkehr.“ Und das mit 19 – höchst bedauerlich, kann man da nur sagen und irgendwie unvorstellbar. Tremmel aber ist sich sicher: „Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die Stimmung an allen deutschen Schulen ähnlich ist.“ Zumindest an Gymnasien.

Leider widmet Tremmel dem Sex und seinen konkreten jugendlichen Ausschweifungen in seinem Buch dann doch viel zu wenig Raum. Statt mehr vom „Wettwichsen“ bei Jungs zu erzählen, versucht Tremmel die ganz große Sexualakte aufzumachen. Das indianische Volk der Trobiander dient ihm als Vorbild für nicht unterdrückte Sexualität schon bei Kindern. Freuds Latenzzeit verdammt der Autor ins Reich der Märchen.

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Fast alle Probleme von Jugendlichen ließen sich lösen oder vermeiden, wenn den Kids nicht permanent das Recht auf eine eigene Sexualität beschnitten würde. Drogen aller Art wären unnötig, wenn alle nur hemmungslos wie die Trobiander wären.

Doch Tremmel ruft weder zur zweiten sexuellen Palastrevolte gegen verschnarchte Alternativis auf, noch hat er irgendeine Idee vom Zusammenhang zwischen Sex und Politik. Er ist scheinbar ein klassisches Exemplar der nach '68 Geborenen, der mit den blanken Titten der APO und Rainer Langhans' noch heute praktiziertem Haremsleben (wie wir es vor kurzem am Strand von Gomera noch persönlich beobachten konnten) nichts anfangen kann. Statt dessen ruft Tremmel naiv nach „verschärften Gesetzen“ und „effektiven Polizeieinheiten“ gegen Drogenhändler. Mit solch reaktionärem Quatsch konkurrieren beim jugendlichen Forscher ganz ernstgemeinte, aber vergleichsweise harmlose Ratschlägen für Fetengänger: „Alkohol hat in unserer Gesellschaft eine lange Tradition und ist keineswegs generell zu verurteilen. Als ,Beiwerk‘ zu Anlässen wie Fasching oder Sylvester ist gegen ein Gläschen nichts einzuwenden.“ Beruhigend.

Für den nachgeborenen Tremmel hat es keine erfolgreiche „sexuelle Revolution“ gegeben. Übrig blieb einzig das Wissen, daß einem vom Masturbieren nicht der Arm steif wird. Die Kids jedenfalls pflegen eine merkwürdige Form der frühreifen Zweierbeziehung. Treue und Zweisamkeit sind, nicht nur laut Tremmel, wieder in. Und hier haut unser Forscher einmal in die richtige Kerbe: Durch akribische Rechnerei entlarvt er die merkwürdig dominante Angst der Jugendlichen vor Aids als ungerechtfertigt. Das konkrete Risiko beim vom Autor heftig propagierten Kondomgebrauch sei extrem gering. Und das ist nicht verharmlosend gemeint, sondern die Antwort auf eine Hysterie bei Jugendlichen, die inzwischen schon mit 15 einen Aidstest verlangen, bevor sie mit jemandem „gehen“.

Gerade wegen seiner irgendwie absurden Mischung aus jugendlicher Naivität und dem Drang zum ganz großen Forschertum ist Tremmels Studie trotzdem lesenswert. Zum Beispiel als Bettlektüre, bei der einem der erste Zungenkuß am Autoskooter wieder einfällt, von dem man nicht wußte, ob es nun wirklich einer war. Tremmel, der bei allem genitalen Forscherdrang heute Betriebswirtschaft statt Psychologie studiert, ist der festen Überzeugung, durch recht frühes Vögeln ginge es allen besser.

Trotzdem sind Ausflüge unter knisternde Acrylpullis, bei denen erst nach Stunden und mehreren Kannen Vanilleteedröhnung eine Brustwarze berührt werden durfte, eine hochspannungsgeladene Erinnerung. Wenn ich jetzt auch mal eine Weisheit preisgeben darf: Dagegen ist Vögeln direkt langweilig.

Jörg Tremmel: „Sweet Little Sixteen. Jugend und neue Sexualmoral“. Fischer Verlag 1994, 14,90 DM.