Dharamsala: Die Bürde von 35 Jahren Exil

Tausende flüchten jedes Jahr aus Tibet nach Nordindien / Der Druck auf den Dalai Lama wächst  ■ Aus Dharamsala Bernard Imhasly

Als Kunga und Chenzum am 6. Mai von einer zweiwöchigen Pilgerreise zu ihrem kleinen Schmuckladen in McLeodganj zurückkehrten, war dieser vollständig verwüstet und ausgeraubt. Während Chenzum, stumm und verständnislos, mit der geplünderten Telefonkasse zwischen dem Geschäftslokal und dem winzigen Wohnzimmer hin und her lief, sammelte seine Frau weinend die samtenen Tablette zusammen, in denen einmal silbernes Ohrgehänge gesteckt hatte. Nur das Bild des Dalai Lama, umrahmt von einer weißen Schärpe, hing noch unberührt an der Wand über dem Chaos von Glas, Steinen und umgestürzten Möbeln.

In der Ecke lagen ein paar dreckige Halbschuhe: Einer der Randalierer hatte, so erklärte ihnen die Nachbarsfrau vom Laden Nr. 13, im Hinterraum ein paar bessere Schuhe entdeckt. Und sie beschrieb dem älteren Ehepaar, was sich am 23. April zugetragen hatte: Von den umliegenden Dörfern seien junge Gaddis durch den Bazar von McLeodganj – der Kolonialname für den oberen Teil von Dharamsala hat bis heute überlebt – gezogen und hätten alle Tibeterläden, die nicht verriegelt waren, gebrandschatzt.

Sie seien auf dem Weg nach Lower Dharamsala gewesen, um an der Kremation von Upenderjit teilzunehmen. Dieser, ebenfalls ein Mitglied der lokalen Gaddi- Hirtenkaste, war tags zuvor von einem jungen Tibeter aus einem nahen Flüchtlingslager im Streit erstochen worden.

Die Kremation wurde zum Anlaß weiteren Aufruhrs. Angeschürt von lokalen Politikern, griffen Gruppen junger Gaddis das nahe „Tibetan Children's Village“ an. Die nahezu siebenhundert verängstigten Kinder wurden von den Lehrern in ein nahes Spital in Sicherheit gebracht, bevor die Scheiben zu Bruch gingen. Den Gebäuden um die „Tibetan Library“, wo die Exilregierung des Dalai Lama untergebracht ist, ging es nicht besser. Und im nahen Trainingszentrum für junge Handwerker ging bald einmal die Holzwerkstatt in Flammen auf. „Wir schauten ihnen von der Kantine aus zu“, berichtet Tselen Namgyal. „Wir trauten unseren Augen nicht: In den 35 Jahren, seit wir hier in Indien sind, war so etwas noch nie geschehen. Wir wußten, daß wir, zum ersten Mal, das Gebot der Gewaltlosigkeit unseres Meisters ernst nehmen mußten – und wie schwierig es war.“

In der Tat verhielten sich die tibetischen Flüchtlinge, wo immer sie an jenem Tag von den Rowdies angegriffen wurden, vollkommen passiv. Lediglich oben in McLeodganj mußten einige von ihnen von Freunden zurückgehalten werden, als die Randalierer in der Nähe der Residenz des Dalai Lama in Rufe wie „Tod dem Dalai Lama!“ ausbrachen.

Auch dieser war abwesend gewesen, als sich ein nie geahnter Zorn plötzlich auf seine kleine Gemeinschaft entlud. Kaum war er von seiner Reise in die USA und Deutschland zurück, machte er sich in charakteristischer Manier selber verantwortlich für die Ereignisse. „Wir Tibeter fallen in diesem kleinen Ort Dharamsala vielleicht zu sehr auf“, bekannte er gegenüber den lokalen Politikern am 5. Mai. „Und sehr viele Tibeter kommen hierher, weil ich hier bin.“

Tatsächlich hat diese ehemalige koloniale Sommerfrische durch die Anwesenheit von etwa achttausend Tibetern einen beispiellosen Aufschwung erlebt. Zahlreiche Schulen, Hospize, Klöster und Tibet-Institute liegen heute über den Hügelzug verstreut, der sich vom Kangra-Tal zum imposanten Dhauladhar-Massiv hinaufzieht, der ersten Himalayakette über der nordindischen Ebene des Punjab.

Das Kommen und Gehen von Besuchern aus aller Welt und die vielen Spenden, die sie zurücklassen, haben aus Dharamsala nicht nur ein wohlhabendes „Little Lhasa“ gemacht, sie haben auch der lokalen Bevölkerung einen ökonomischen Aufschwung beschert. Gleichzeitig haben sie bei dieser auch das Bewußtsein für Unterschiede geschärft. „Wir haben soziale Kontakte bewußt nicht forciert, weil wir nicht den Eindruck erwecken wollten, wir seien für immer hier“, meint Rinchen Khandro, Ministerin für Erziehung. „Nun sehen wir uns plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert, wir seien distanziert und arrogant.“

Ein Gaddi-Taxichauffeur bestätigt dies: „Sie behandeln uns wie Kastenlose“, und selbst die Kongreß-Politikerin Chandresh Kumari – aus bestem Maharaja-Haus – beklagt sich: „Wir wollen, daß sie unsere Gäste sind, nicht unsere Bosse.“

Der Dalai Lama war rasch zu handeln bereit, um möglicherweise noch größeren Schaden zu verhindern: „Ich habe beschlossen“, meinte er am Donnerstag vor den verdutzten lokalen Politikern, „nach einem Ort Umschau zu halten, wo wir Tibeter weniger auffallen – in der Gegend von Delhi vielleicht, oder in Bangalore.“ Die Ankündigung – und Warnung –, welche Dharamsala im Nu wieder in ein verschlafenes Nest verwandeln dürfte, kam keinen Augenblick zu früh. Am Morgen darauf, genau zwei Wochen nach den Unruhen, lagen auf der steilen Straße nach McLeodganj überall weiße Zettel verstreut: „Falls Ihr Tibeter nicht bis zum 25. Juli verschwindet, werden wir Euch hinausbombardieren“, hieß es auf dem primitiv gedruckten Flugblatt auf Hindi.

Doch nicht nur lokale Überfremdungsängste lassen den Führer der Tibeter rasch nach Alternativen suchen. Der Zustrom von Flüchtlingen aus dem chinesisch besetzten Tibet hält unvermindert an: 1992 waren es 3.374 Neuankömmlinge, 1993 kamen 4.477. Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres ließen sich knapp 1.000 Tibeter im „Reception Centre“ von McLeodganj registrieren, oft nach Wochen der Flucht über die Berge nach Nepal und von dort nach Indien. Viele von ihnen sind Schulkinder, deren Eltern dem chinesisch ausgerichteten Schulsystem ausweichen wollen.

Andere – darunter viele Mönche und Nonnen – werden von den chinesischen Behörden als asoziale Elemente gebrandmarkt, weil sie an Demonstrationen teilgenommen haben: „Die Flucht“, sagt der ehemalige Mönch Lobsang Tenzin, „gibt unseren Familien zumindest wieder die Möglichkeit, Arbeit zu finden.“ Die Lager im restlichen Indien sind überfüllt, die tibetische Atmosphäre Dharamsalas, und vor allem die Präsenz des spirituellen Oberhauptes lassen daher viele in einem der zahlreichen Klöster und Hospize von Klein-Lhasa Unterschlupf suchen. Doch die Rückkehr aus dem Exil bleibt weiterhin ein ferner Traum. Mit seiner unermüdlichen Reisetätigkeit kann der Friedensnobelpreisträger Tibet im Bewußtsein der westlichen Öffentlichkeit zwar wachhalten. Der kürzliche Empfang durch Präsident Clinton, ebenso wie die einstimmige Anerkennung Tibets als ein „besetztes Land“ durch den US-Kongreß zeigen, daß er nach wie vor fähig ist, die chinesische Regierung diplomatisch zu bedrängen.

Gleichzeitig macht sich der Dalai Lama aber wenig Illusionen über den Erfolg seiner Strategie, China dadurch zu Verhandlungen zu bewegen. „Seit vierzehn Jahren verfolge ich einen Pfad der Mitte – doch meine Bemühungen waren erfolglos“, stellt er im persönlichen Gespräch fest. „Sie haben uns viele Sympathien eingetragen, aber keinen wirklichen Dialog mit China.“ Falls die internationale öffentliche Meinung weiterhin keine Wirkung zeige, sehe er daher vor, alle Tibeter – im Exil und in Tibet – in einer Art von Referendum vor die Wahl zwischen einem Autonomieangebot und die erneute Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit zu stellen.

„Der Geist von Straßburg lebt noch“, meint der Dalai Lama in Anspielung an seine 1988 vorgetragene Kompromißformel vor dem Europaparlament, in der er China die Verantwortung für Verteidigung und internationale Beziehungen offerierte, im übrigen aber vollständige Selbstverwaltung forderte. „Aber ich kann nicht mehr lange warten.“

Das tibetische Oberhaupt, das nur zu gern bereit ist, seine weltliche Autorität einer demokratischen Staatsform zu opfern, sieht sich in der Tat unter starkem Zeitdruck. Während weiterhin Tibeter nach Indien flüchten, schafft China mit seiner liberalen Wirtschaftspolitik einen starken Sog für chinesische Ansiedler in Tibet. Bereits heute soll gemäß dem Weißbuch der Exilregierung der tibetische Bevölkerungsanteil kleiner als der chinesische sein, und der Dalai Lama zitiert eine kürzliche Äußerung des Bürgermeisters von Lhasa, der von einer städtischen Bevölkerung von 400.000 sprach – der Anteil der Tibeter sei weniger als ein Viertel davon.

„Die demographische Aggression Chinas ist alarmierend; sie zeigt uns, daß wir nicht mehr lange warten können.“ Statt der Aufgabe seiner Strategie der Gewaltlosigkeit setzt der freundliche Mönch die Hoffnung auf eine Demokratisierung nach dem Tod der überalterten Führungsgruppe in Beijing. Er zitiert den kürzlichen Appell der Gruppe von 54 Dissidenten aus Shanghai um Wei Jingsheng, welche die eigene Führung aufforderte, mit dem Dalai Lama Gespräche über eine „wirkungsvolle Autonomie“ Tibets zu beginnen.

Der Zeitfaktor ist auch für die Gemeinschaft der Exil-Tibeter von Belang. Die Demokratisierung der eigenen Führungsstrukturen hat die divergierenden Standpunkte in die Öffentlichkeit getragen. Der immer schon aufsässige „Tibetan Youth Congress“ ist dabei, sich als politische Partei zu formieren, um das Exil-Establishment zur offenen Strategie-Diskussion herauszufordern. Zwar besteht ein weiter Konsens über die Notwendigkeit einer gewaltlosen Strategie; aber was für die einen ein absolutes moralisches Prinzip darstellt, ist für andere lediglich eine taktische Option.

Die Kritik entzündet sich besonders am Vorschlag von Straßburg, der Aufgabe des Unabhängigkeitsprinzips. „Die Politik der Anbiederung mit China, wie sie in Straßburg zum Ausdruck kam, hat Schiffbruch erlitten“, sagt Jamyang Norbu, der Herausgeber einer neuen, unabhängigen Zeitung, die sich Mang-Tso – Demokratie – nennt und die eine offene Debatte über Alternativen führt. Norbu hofft, daß eine stärkere politische Auseinandersetzung dazu beiträgt, das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: die Befreiung Tibets.

Dies gilt gerade für die Generation jener staatenlosen Tibeter, die im Exil geboren sind und die heute bereits 50 Prozent der weltweit 125.000 Flüchtlinge ausmachen. Lobsang Tenzin, der Mönch, der 1992 nach drei Jahren Gefängnis nach Indien flüchtete und heute in einem kleinen Teeladen in McLeodganj das Geschirr wäscht, sieht daher einen Lichtblick im Aufruhr, der vor drei Wochen Dharamsala erschütterte: „Als ich vor zwei Jahren hierherkam, war es wie im Paradies – ich konnte frei reden, mich frei bewegen. Aber die kürzlichen Krawalle haben gezeigt, daß wir nicht auf unserem eigenen Boden leben, auch jene nicht, die hier geboren wurden. Es war auch für sie ein Zeichen, daß sie für ihr Land kämpfen müssen, statt selbstzufriedene Einwohner Indiens zu werden.“