Projektionsfläche, Krücke und Katalysator

Heute geht das 31. Berliner Theatertreffen zu Ende. In 13 Tagen gab es 79 Veranstaltungen. Ein Bericht  ■ Von Petra Kohse

Wir befinden uns im Jahre eins nach Schließung des Schiller Theaters. Für den Berliner Alltag heißt das eigentlich nicht mehr viel. Die Empörungswelle ist abgeflaut, und mit dem Kultursenator Roloff- Momin wurde ein grimmiger Friede geschlossen: Man schätzt ihn nicht, weiß aber, daß er einiges tun wird, um den jetzigen Bestand zu erhalten. Schon um sich selbst zu erhalten. „Mit mir nicht“, sagt er gerne, wenn die Rede auf weitere Theaterschließungen kommt.

Und zur Eröffnung des 31. Theatertreffens hat er jetzt auch sein Wort für den Fortbestand der Veranstaltung gegeben. Es kann gut sein, daß man ihn bei diesem Wort auch nehmen wird, denn die Berliner Festspiele wurden bislang zur Hälfte vom Bund finanziert, und der hat keine Lust mehr, für Berliner Festivals zu bezahlen, die es in Bonn doch auch nie gab. Schon in diesem Jahr wurden 11,5 Prozent des Etats gekürzt.

Soll man also den Rücktritt dieses Kultursenators fordern, der seinen Ruf nicht mehr zu verlieren hat und schon aus diesem Grunde als Garant glaubwürdig geworden ist? Ja, ja, ja, sagt Frank-Patrick Steckel, Intendant des Bochumer Schauspielhauses. Und boykottieren müsse man Berlin, um sich von der „Bande kulturpolitischer Verbrecher“ zu distanzieren. Deswegen kam er auch nur zähneknirschend angereist in diese Stadt, „in der der Eklat noch stinkt“, und auch nur, weil die Einladung zum Theatertreffen einer Koproduktion seines Hauses mit der Westfälischen Schauspielschule galt.

Steckel linderte seine Berlin- Phobie mit Betroffenheits- und Pietätsoden an das verblichene Schiller Theater. Gleichzeitig erzählte er vom Entwurf einer Theaterstrukturreform für Nordrhein- Westfalen, die er mit ausgeheckt habe, und die unter anderem vorsehe, daß in Köln nur die Oper und in Bonn das Schauspiel erhalten werden. Ein Zweckdogmatiker. Der Kultursenator hat sich gegen Steckels Schmähungen mittlerweile mit einer Gegenschmähung gewehrt. Steckel, der letzten Herbst als Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters im Gespräch war, sei wohl persönlich enttäuscht, weil nicht er, sondern Bernd Wilms den Posten bekommt.

Das könnte den Ton erklären, nicht aber die Musik. Denn auch Kollege Claus Peymann vom Wiener Burgtheater stand vor der Berliner Premiere von Babels „Sonnenuntergang“ auf der Bühne des von den Festspielen angemieteten Schiller Theaters, wo er nicht nur ankündigte, daß Manfred Karge für den erkrankten Pavel Landovsky einspringt, sondern auch forderte, dieses Haus sofort wieder als ständiges Schauspieltheater zu öffnen. Ohne Kampfesworte kehrt man nicht an den Ort einer verlorenen Schlacht zurück.

Ich will weder die Schließung schönreden, noch ihren überaus mißlichen Verlauf. Doch im Jahre eins nützen solche Feindbildsentimentalitäten nichts mehr. Auch daß sie stets heftig beklatscht wurden, ändert daran nichts. Das zeigt nur, auf welche merkwürdig undifferenzierte Weise sich Publikum und Theatermacher auf diesem Festival politisch gaben. Aber nicht nur die Krise der Kulturpolitik wurde beklagt, sondern auch die Krise des Theaters.

Auf einer Diskussion über DDR-Theater sagte der Kritiker Roland Wiegenstein, daß der Kunst heutzutage generell keine gesellschaftliche Funktion mehr zugemessen werde. Das könne sich zwar ändern, aber zumindest die Theater seien nicht darauf vorbereitet, Orte gesellschaftlicher Selbstverständigung zu sein. Auch die Abschlußdiskussion mit der Jury offenbarte viel Mißbilligung über die Auswahl, worauf Juror Ulrich Schreiber einigermaßen resigniert konstatierte: „Auch jede andere Auswahl würde in Ihnen Frust erregen – das ist der Zustand des Theaters.“ Als letzte Ergänzung noch Günther Rühle: „Uns bleibt im Augenblick nichts, als teilzunehmen an der Suche, die das Theater nach sich selbst hat.“

War's wirklich so schlimm, was zu sehen war seit dem 6. Mai in Berlin? Eigentlich doch nicht – wenn man alles nur in allem nimmt. Bis zum Augenblick, in dem dieser Artikel verfaßt wird, habe ich neun von zwölf Aufführungen gesehen. Nur in einer einzigen habe ich gelitten, in Jürgen Kruses „Hedda Gabler“ aus Frankfurt. Der Ibsen-Stoff über die Abgründe der Oberflächlichkeit wird bei Kruse wie eine leicht verbogene Langspielplatte mit 45 Umdrehungen pro Minute abgespielt. Hier wird eiernd durch den Text gerast, doch die Verzerrung ist keine zur Kenntlichkeit. Friedrich Karl Praetorius enerviert als tuntig-nölender Berufsinfantiler, und Cornelia Schmaus glaubt man weder Langeweile noch Überdruß. Was machen die da? Und warum?

Andrea Breths psychologisch- realistischer Zugriff auf das gleiche Stück an der Schaubühne ist in seiner üblichen Perfektion da schon viel einsichtiger. Corinna Kirchhoff spielt eine kostbare Gattin mit all der luxuriösen Ödnis, die es heute eben so gibt. So langweilig und lächerlich ist das Wohlstandsbürgertum, und auch wenn die rekonstruierende Theatersprache an sich nicht spannend ist, die Zeitbezüge treten dadurch klar hervor. Dem traditionellen Schaubühnen- Publikum müßten die Schuppen von den Augen fallen.

Apropos Publikum. Was die Einladung von Michael Jurgons' „Othello“ vom Mecklenburgischen Staatsschauspiel betrifft, so verteidigte Rolf Michaelis die Jury-Entscheidung vor allem damit, daß diese Inszenierung beim jungen Publikum in Schwerin einschlage wie eine Bombe. In Berlin keineswegs. Nach der Pause konnte ich meinen Platz in der elften Reihe des Berliner Ensembles ohne Schwierigkeiten verlassen und mich in der vierten Reihe ausbreiten. Man sah eine konventionelle Erzählung der Geschichte mit einigen modernen Requisiten und mäßigen bis guten darstellerischen Leistungen. Nichts Aufregendes, und ich hatte den unangenehmen Eindruck, daß dem Schweriner Ensemble mit der Einladung kein Gefallen getan wurde. Es wurde in seiner anständigen Mittelmäßigkeit in Berlin irgendwie vorgeführt – zumal Andreas Kriegenburgs „Othello“-Adaption an der Volksbühne eben erst abgespielt ist. In dieser – nicht einmal nominierten – Inszenierung war weit mehr als modernes Bildungstheater.

Ein Beispiel: Desdemona beschmiert Othello am Anfang mit Nutella. Er schultert sie dann und trägt sie davon. Der Fremde als Projektionsfläche, Krücke, Katalysator. Nichts ähnlich Einsichtiges aus Schwerin: Nadja Schulz, eine holde Blonde, verfällt einfach dem Othello Dirk Glodde, der von Anfang an tiefschwarz angemalt ist und eine blendend weiße Phantasieuniform trägt. Jurgons wurde von Teilen des Publikums deswegen Rassismus vorgeworfen, was natürlich Quatsch ist. Denn wenn Othello später auf dem Kühlschrank sitzt und die Arme baumeln läßt, heißt das nicht, daß Jurgons denkt, Schwarze seien Affen, sondern läßt sich theatersprachlich übersetzen mit: Da macht sich einer aus Eifersucht zum Affen. Bei der Jurydiskussion ging es darum, ob Jurgons Klischees unreflektiert anwendet oder sie bewußt anprangert. Juror Wolfgang Kralicek wies irgendwann sehr zutreffend auf die hier offenbar werdende Aktualität von David Mamets „Oleanna“ hin, ein Stück, in dem gezeigt wird, wie schnell political correctness zum Instrument dogmatischer Geißelung werden kann.

Eingeladen war die Züricher Inszenierung von Jens-Daniel Herzog. Leslie Malton und Edgar Selge konzentrieren sich hier ganz auf den Machtkampf zwischen dem Hochschulprofessor, der seine Position dazu benutzt, gegen die Konventionen zu polemisieren, und der nach Orientierung dürstenden Studentin. Sie bringt den, der ihr eindeutige Führung verweigert, mit dem Apparat „politische Korrektheit“ zu Fall. Herzog bauscht nicht auf, was tatsächlich ja auch kein konkretes Delikt ist. Sexuelle Belästigung findet nicht statt, sondern wird in ein tröstendes Handauflegen nur hineininterpretiert. Gerade gegen Johanna Schalls Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin, bei der sich schon das Programmheft als Flagge im Geschlechterkampf hissen läßt, ist dies wohltuend wesentlich und deutlich.

Wenn man das Kriterium „geeignet zur gesellschaftlichen Selbstverständigung“ zugrundelegt, so war Karsten Schifflers Inszenierung von Buero-Vallejos „Brennende Finsternis“ der Höhepunkt des Treffens. Diese Koproduktion des Bochumer Schauspielhauses mit Schauspielstudenten war auch Schifflers Regiedebüt. Hier gibt es keine hervorragenden darstellerischen Einzelleistungen, wie sie Hans-Michael Rehberg in Dieter Giesings „Sonnenuntergang“ von Babel (Akademietheater Wien) zeigte, dem als jüdischen Fuhrunternehmer Mendel Krik die unpäßlich überschüssige Kraft von seinen Söhnen ausgetrieben wird. Und hier gibt es keine Theaterkomposition zu bewundern wie in „Wolken. Heim“ von Elfriede Jelinek, ein deutscher Zitatblock von Hölderlin bis RAF-Prosa, den Tilman Raabke (Dramaturgie) und vor allem Jossi Wieler (Regie) am Hamburger Schauspielhaus zu einer ewiggestrigen Gedächtnisfeier von vier Kriegerwitwen und ihren zwei Zöglingen wundervoll ausformulierten. Aber diese Bochumer Aufführung stellt messerscharf eine täglich auszuhaltende Dialektik aus: Zufriedenheit ist nur um den Preis des Selbstbetrugs zu erlangen.

Vordergründig ist „Brennende Finsternis“ eine Parabel auf Franco-Spanien und damit auf jedes totalitäre System: In einer Blindenanstalt wird „eiserne Fröhlichkeit“ praktiziert, bis einer kommt, der die „Nicht-Sehenden“ blind nennt und mit seiner irren Hoffnung, irgendwann sehen zu können, die anderen demoralisiert. Er wird umgebracht, aber die Ruhe ist hin. Stückwahl und die angenehm unpsychologisierende künstlerische Darstellung einer nicht pathologischen, sondern inneren Blindheit in dem klinisch hellen Raum von Daniel Roskamp sind ein Angebot zur Selbstanalyse.

Überraschend kalt ließ George Taboris „Requiem für einen Spion“ – ebenfalls vom Akademietheater Wien – mit Gert Voss, Branko Samarovski und Ursula Höpfner. Man beobachtete darstellerische Virtuosität zum Thema Lüge und Verrat in einer hinreißenden Tiefgarage von Karl- Ernst Herrmann, genoß den sprachlichen und inszenatorischen Grotesk-Witz Taboris und ging amüsiert und unbehelligt wieder hinaus. Und Karin Beier, deren Inszenierung von „Romeo und Julia“ am Düsseldorfer Schauspielhaus Jugendkultur dynamisch auf die Bühne übersetzt, und deren Julia, die 23jährige Caroline Ebner, auch im Namen Alfred Kerrs den Nachwuchs-Darstellerpreis der „Pressestiftung Tagesspiegel“ erhielt, werfe ich vor, daß sie Shakespeares Geschichte ebenso hinnimmt wie Jurgons. Was die zuvor in Liebesdingen herzlich naive Julia bewegt, sich wegen Romeo gleich das Leben zu nehmen, bleibt ein fettes Fragezeichen. Beier hat Schwung und Rhythmusgefühl, und die Aufführung hat zum Großteil Spaß gemacht, aber sie hätte mir nicht gefehlt.

Und das ist, wahrscheinlich, der Zustand des deutschsprachigen Theaters im allgemeinen, wenn man voraussetzt, daß die Auswahl repräsentativ ist: im ästhetischen Gesamtzugriff oft überzeugend, aber weitgehend richtungslos, selbstgenügsam, ungefährlich.