Anklage steht auf schwachen Füßen

■ Im Dolgenbrodt-Prozeß stellen sich die Zeugen dumm

Potsdam (taz) – Nach fünf Stunden Verhandlung platzte Verteidiger Karsten Beckmann der Kragen: „Wenn ich mir dieses Schauspiel ansehe, überlege ich, ob ich nicht sofort beantragen soll, den Haftbefehl gegen meinen Mandanten aufzuheben“, wettert der Berliner Anwalt vor dem Landgericht Potsdam. „Die Bank kann gar nicht lang genug sein für all die, die hier sitzen müßten.“ Zum erstenmal stimmte auch der Staatsanwalt ein: „Da haben Sie möglicherweise recht“, gab Robert Lenz zu. Arg gebeutelt saß der Ankläger vor seinen Aktenbergen und mußte miterleben, wie ein Zeuge nach dem anderen am gestrigen zweiten Verhandlungstag die Anklage schwächte.

Auf der Anklagebank sitzt der 19jährige Silvio J. aus Königs Wusterhausen, der im November 1992 das Asylheim in Dolgenbrodt angezündet haben soll. J. hatte sich bis zu seiner Festnahme im Mai 1993 mit der Tat gebrüstet, bestreitet sie nun jedoch. Allerdings hat er ausgesagt, daß die wahren Täter logistische und finanzielle Hilfe plus 2.000 Mark aus dem Dorf erhalten hätten.

Als erste Zeugin wurde gestern die Mutter des Angeklagten vernommen. Sie bestritt energisch, gegenüber der Königs Wusterhausener Jugendrichterin Hase inoffiziell geäußert zu haben, daß ihr Sohn den Anschlag begangen habe. „Das habe ich nie gesagt. Ich habe einmal in der Wut gesagt: Dem Bengel trau' ich alles zu.“

Zeuge Nummer zwei gehörte anfänglich selbst zu den Beschuldigten. Denn auch der in Dolgenbrodt wohnhafte siebzehnjährige Axel F. brüstete sich zunächst mit der Tat. Silvio J. habe er später als Täter genannt, so Axel F., „weil der halt im Gespräch war“. Und plötzlich war er sich auch nicht mehr sicher, daß es Silvio J. war, der vor der Tat durch Dolgenbrodt gebraust war. „Könnte auch der Marko Schmidt gewesen sein“, druckste Axel F. Schmidt ist der Dorf-Skinhead von Dolgenbrodt.

Zeuge Heiko K. (19), sagte aus, daß sich J. einen Tag nach dem Anschlag in der Schule als Täter ausgegeben und von 2.000 Mark Belohnung gesprochen hat. Allerdings hätte ihm keiner geglaubt, weil er öfter mit Dingen angebe, die er nicht getan habe.

Frank H. (19), einer der Begleiter des Zeugen Axel F., konnte sich schließlich an gar nichts mehr erinnern und widersprach seinen eigenen Aussagen, die er vorher zu Protokoll gegeben hatte.

Bleibt die Frage von Rechtsanwalt Beckmann: „Auf welcher Grundlage hält man meinen Mandaten eigentlich seit zehn Monaten in Untersuchungshaft?“ Michaela Schießl