: Mein Freund, der Kühlschrank
■ Eßstörungen: der unstillbare Hunger und wie frau ihn los wird
„Ab Montag mache ich Diät.“ Wer diesen Satz nicht schon aus dem eigenen Mund gehört hat, kennt ihn mit Sicherheit aus der nächsten Umgebung. Essen, nicht essen, zuviel essen, neue Diät – die Gedanken kreisen zwanghaft ums Essen und sind fast ausschließlich ein Frauenproblem.
„Eßstörung war auch mal ein dickes Thema in meinem Leben“, begann am Dienstag abend die Bremer Psychologin Beate Kallweit ihren Vortrag im Frauencafé Quirl. Gekommen waren ein Dutzend direkt oder indirekt Betroffene, um zu erfahren, wie zwanghaftes Eßverhalten in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen – Eßsucht, Bulimie, Magersucht – überwunden werden kann. Aber wer ist eigentlich eßgestört?
Gewichtsprobleme sind nicht gleichbedeutend mit der Sucht nach Essen. „Nicht jede Frau mit Fülle ist eßgestört“, sagt Beate Kallweit, „Essen als Sucht hat auch nichts mit den Mengen zu tun, die gegessen werden, sondern wie wichtig das Essen im Leben dieser Person ist“. Viele eßgestörte Frauen essen nie in der Öffentlichkeit; Essen und Scham verschmelzen zu einer selbstverständlichen Einheit. Eßsüchtige Frauen haben das Gefühl, nie satt zu werden, quälen sich mit einem unstillbaren Hunger nach immer mehr, auch wenn das schlechte Gewissen immer mit von der Partie ist. Deshalb versuchen an Bulimie erkrankte Frauen, die eben noch heißhungrig verschlungenen Speisen mittels Finger im Hals auch gleich wieder loszuwerden. Magersüchtige hingegen – und immer mehr junge Mädchen sind davon betroffen – wollen sich über menschlich-profane Bedürfnisse wie das Essen schlicht hinwegsetzen. Ein Versuch der Autonomie, bei dem es letztlich nicht selten um Leben und Tod geht.
Allen Eßstörungen gemeinsam ist die Sehnsucht nach Perfektion, der Wunsch, einem Idealbild zu entsprechen. Beate Kallweit sieht hinter zwanghaftem Eßverhalten einen unstillbaren Lebenshunger, aber auch eine tiefe Unzufriedenheit mit dem eigenen Selbst, die sich durch das ständige Herummäkeln am eigenen Körper äußert. Nur auf eines ist da noch Verlaß: Essen.„Nie ist ein Mensch so verfügbar und so kalkulierbar wie Essen“, sagt die Psychologin.
Hinter der wahllosen Gier nach Essen stecken ungelebte Gefühle und nicht zugelassene Bedürfnisse; ein sehnsüchtiger Hunger nach Lebendigkeit und Bedeutung also. „Die Gier verdeckt eine geballte Lebensenergie, und es geht darum, diese Gier zu entschlüsseln“, so Beate Kallweit, „ich konnte mein Eßverhalten ändern, als ich die Gründe verstanden habe“. Da unterscheiden sich Eßgestörte von anderen Süchtigen: frau kann dem Essen nicht abschwören wie die AlkoholokerInnen dem Alkohol. Es führt kein Weg daran vorbei, die Gier zu verstehen, um wieder lustvoll essen zu können. Die Heilungswege können so individuell sein, wie die Suchtgeschichte selbst. „Wenn sich innere Konflikte lösen, Bedürfnisse, aber auch Schmerz und Angst, zugelassen werden, ist die Gier weg“, meint die Psychologin. Aber: „Es gibt keinen Heilungsweg ohne die Hilfe eines anderen Menschen.“ Silke Mertins
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