Pixel auf der Nase

■ Wim Wenders, Fotograf: "Lightning over Water" ist ziemlicher Ernüchterung gewichen. Ein Gespräch mit dem Regisseur anläßlich der Publikation von "Einmal"

Ihr Buch enthält Fotos aus 20 Jahren, die ältesten sind leicht vergilbte Polaroids aus der Zeit von „Alice in den Städten“. Damals war das neu und aufregend; Im Film beobachtet Philip Winter fasziniert, wie nach ein paar Sekunden das Bild entwickelt ist. Und doch ist er unzufrieden, weil die „stehenden Bilder“ von der Wirklichkeit schon wieder überholt worden sind.

Wim Wenders: Für mich ist ein Grund zu fotografieren oder zu filmen, die Dinge vor dem Verschwinden zu bewahren. Auch bei Dreharbeiten habe ich oft meine Kamera da aufgebaut, wo man wußte, das gibt es bald nicht mehr. In „Der amerikanische Freund“ haben wir die Häuserzeile aus dem Hamburger Hafen erst in letzter Sekunde ausgesucht. Eigentlich wollten wir woanders drehen, aber als wir hörten, die Häuser sollten abgerissen werden, war klar: Wir mußten hier drehen.

Das hat in jedem Film die Wahl der Schauplätze beeinflußt. „Der Himmel über Berlin“ ist heute ein historisches Dokument – nicht nur wegen der Mauer. Wo der Zirkus stand, dieses Niemandsland gibt es nicht mehr; die Brücke, wo der Mann auf dem Motorrad stirbt, ist abgerissen. Die Orte dieses Films, speziell jene, wo nichts war, sind verschwunden. Inzwischen wird alles zugebaut, als ob es kein Morgen gäbe. Bei Menschen empfinde ich da eher eine Scheu. Wenn man den Fotoapparat auf einen Menschen richtet, werde ich das Gefühl nicht los, etwas zu machen, was diesen Menschen überleben wird. Auch beim Filmen. Bei „Lightning over Water“ stand ein todkranker Mensch vor der Kamera, und alle wußten, daß jeder Negativschnipsel Nicholas Ray überleben würde. Nun war das sein Wunsch, er wollte es unbedingt. Trotzdem – einen Menschen zu fotografieren finde ich immer problematisch. Leute, die ohne weiteres immer ihren Apparat zücken können, um andere Menschen zu fotografieren, habe ich entweder bewundert oder ihnen zutiefst mißtraut.

„People take pictures of each other, just to prove that they really existed“, heißt es in einem Song der Kinks. In vielen Wenders-Filmen wird fotografiert, zumindest gibt es – vom ersten Spielfilm „Summer in the City“ bis zu „In weiter Ferne, so nah!“ – eine Szene, wo der Protagonist sich im Fotoautomaten knipsen läßt. Glauben Sie nicht mehr an die Beweiskraft des Fotos? Philip Winter in „Alice in den Städten“ soll eine Geschichte schreiben, statt dessen fotografiert er wie besessen.

Damals habe ich weniger an das Geschichtenerzählen geglaubt, mehr an die Kraft von Bildern. Inzwischen, 20 Jahre später, erscheint mir Philip Winter als ziemlicher Naivling. Aber es hat sich auch viel verändert seitdem, und all diese Fragen sind inzwischen ein bißchen altmodisch geworden. Ein digital aufgezeichnetes Bild hat keinen nachprüfbaren Zusammenhang mehr mit der Realität der Aufnahme. Die Wahrheit, die es bei jedem Fotografieren gibt im Moment des Fotografierens (oder beim Film dann 24mal in der Sekunde), diese Wahrheit gibt es in der elektronischen und vor allem jetzt in der digitalen Bildaufzeichnung nicht mehr. Beim Video gibt es das Einzelbild schon nicht mehr, nur ein Band, das man ohne Hilfsmittel nicht mehr wiederbeleben kann. Bei der digitalen Aufzeichnung ist der Wahrheitsgehalt eines Bildes nicht mehr nachprüfbar. Jede Kopie ist identisch mit dem Original, jedes Atom eines Bildes, also jedes Pixel, ist manipulierbar. Ob du einen Pickel auf der Nase hast oder ob du überhaupt in dem Raum warst, ob es dich überhaupt gibt, das Bild ist kein Beweis mehr. Noch kann man das vom Fotografieren nicht sagen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Realität und Reproduktion. Eben darin liegt auch die Moral des Fotografierens.

Dem Buch vorangestellt ist eine Reflexion über die moralische Dimension des Fotografierens: „To shoot pictures“.

Man soll ja bloß nicht meinen, daß Fotos nur wiedergeben, was vor der Kamera liegt. Wenn man Bilder „schießt“, spürt man deutlich den „Gegenschuß“, nämlich: Wer steht hinter dem Fotoapparat? Es gibt im Deutschen das schöne Wort „Einstellung“, das in beide Richtungen funktioniert. Also im fotografischen Sinne das, was vor der Kamera liegt, worauf und wie man den Apparat einstellt. Zugleich zeigt jedes Bild die Haltung, die Einstellung dessen, der das Foto gemacht hat: was ihn an der Sache interessiert, ob er eine liebevolle Einstellung hat oder eine ablehnende oder eine zynische. In keiner anderen Sprache, weder auf Englisch noch auf Französisch, gibt es diesen doppeldeutigen Begriff. Da ist das Deutsche traumhaft genau.

Das Buch enthält Bilder aus aller Welt: Bali, Australien, Japan, USA, Paris und so weiter, aber keine Fotos aus Berlin-Kreuzberg, wo Ihre Produktionsfirma zu Hause ist.

Da sind sich Fotografen und Filmemacher ähnlich: Die einen wollen raus in die Weltgeschichte, die anderen bleiben immer an ihrem Ort. Also Fellini in Rom, Ozu in Tokio. Und es gibt die anderen, die ständig unterwegs sind. Meine Produktionsfirma heißt nicht umsonst „Road Movies“. Für mich hat Fotografieren mit Reisen zu tun: Wenn ich den Koffer packe, denke ich zuerst an die Fotoausrüstung und dann erst an die Zahnbürste und die Unterhose.

Haben Sie noch Ihre erste Kamera, verbinden Sie damit bestimmte Erinnerungen?

Meine erste Fotokamera war eine Box, wo man von oben reinguckt, mit zwei Linsen. Ich glaube, das war 4,5 mal 4,5 oder 6 mal 6, quadratische Bilder jedenfalls. Damit bin ich nie gut zurechtgekommen – ich habe immer das Seitenverhältnis 1 zu 1.66 aus dem Kino im Kopf, so daß ich auch beim Fotografieren gerne ein ähnliches Format habe. 6 mal 9 ist ideal für mich, noch ein bißchen schöner als das Kleinbildformat. Als Junge hatte ich eine Dunkelkammer und habe die Abzüge selbst gemacht. Von meinen ersten Kameras ist keine mehr da. Meine erste Leica ist mir geklaut worden, übrigens auch die Panoramakamera. Die Apparate, die ich jetzt habe, sind alle nicht älter als zwei oder drei Jahre.

Wie sieht Ihr Fotoarchiv aus, machen Sie immer zuerst Kontaktabzüge?

Ja, da hänge ich richtig dran. Der Kontaktbogen gibt rücksichtslos die Chronologie wieder, da ist immer eine Geschichte drin. Oben auf der ersten Reihe war ich noch in New York, und in der dritten Reihe bin ich in Paris, ach ja, stimmt, dann war ich in Berlin. Der Kontaktbogen gibt eine Reiseroute wieder, er ist im wahrsten Sinne des Wortes auch ein Storyboard. Selbst wenn alle Bilder vom gleichen Ort stammen, auf dem Kontaktbogen ist die Route fixiert: Wie man um diese Ecke gegangen ist und dann um die nächste, wen man getroffen hat. Das Einzelfoto ist ein isoliertes Bild, der Kontaktbogen immer schon Montage.

Wie ist das Verhältnis zwischen Fotograf und Filmemacher?

Fotos sind mögliche Ausgangspunkte von Geschichten. Eigentlich Kurzfilme beziehungsweise Kürzestfilme, der Beginn eines Dramas. Manchmal kommt man mit dem nächsten Foto auch in den nächsten Akt. Sehr selten zum Schluß.

„Einmal“ präsentiert „Bilder und Geschichten“. Die Gattungsbezeichnungen könnte man fast vertauschen: Die Bilder, vor allem die Fotoserien, erzählen fragmentarische Geschichten, und die Geschichten, poetische Miniaturen, sind häufig Erinnerungsbilder.

Es sind Geschichten neben den Bildern. Geschichten, die durch die Bilder ausgelöst worden sind, und nicht die Legenden zu den Bildern. Ich mag kurze Texte, kleine Zeichnungen und Aquarelle, alles Dinge, die schnell gemacht werden müssen und auf Intuition beruhen. In einem einzigen Versuch muß alles gesagt werden. Das ist es auch, was mich beim Fotografieren fasziniert: Es passiert in einem einzigen Augenblick, in dem es eine Verbindung zwischen dem Auge und der von dir benutzten Maschine gibt.

Was halten Sie von Ihren fotografierenden Kollegen?

David Lynch macht gute Fotos, Dennis Hopper auch. Es gibt sicher noch ein paar mehr. Aber die meisten Filmemacher kommen vom Geschichtenerzählen, also vom Drehbuch, und Leute, die so wie ich Maler oder Fotograf werden wollten, sind eher selten.

Sie selber werden auch häufig fotografiert...

Meistens will ich nicht, was dann mißverstanden wird. Letzten Endes ist es die schmerzfreiere Methode, sich damit abzufinden als sich zu entziehen. Selbst bei Schauspielern gibt es dieses Phänomen, daß jemand nicht fotografiert werden will. William Hurt zum Beispiel. In dem Moment, wo jemand anderes am Set einen Fotoapparat oder auch nur aus der Ferne eine Videokamera auf ihn richtete, konnte er nicht mehr. Dann war er wie paralysiert. Er hat es auch immer sofort gemerkt, selbst wenn es hinter ihm passiert ist. Er hat gesagt, ich mache das nur für diese Kamera hier, das ist mein Beruf. Aber nicht für irgend jemanden, der von der Seite fotografiert – das nimmt meiner Arbeit sämtliche Würde. Wir konnten mit ihm keine Standfotos machen. Ich habe das akzeptiert. Leute, die Fotografen ihre Kamera wegnehmen und kaputtmachen, kann ich gut verstehen. Auch wenn es Berserker sind und dieser Akt meist unter Einfluß von Alkohol passiert: Jeder, der sich gegen Fotografen wehrt und Kameras oder Videogeräte zerschmettert, kann mit meiner vollen Sympathie rechnen. Interview: Michael Töteberg

Wim Wenders: „Einmal. Texte und Geschichten“. Verlag der Autoren, München, 350 Fotos, ca. 440 Seiten, 86 DM.