Freudentaumel in Gaza-Stadt

Palästinenser feiern das Ende der Besatzung  ■ Aus Gaza Julia Albrecht

Es wäre wie im Paradies, wenn es so weiterginge: lachende Gesichter, Küsse, Umarmungen und freundliche Gesten für die uniformierten palästinensischen Sicherheitskräfte. Die können ihr Glück selbst noch nicht fassen. Vor lauter Empfangsstimmung und Seligkeit können sie ihren Job in Gaza-Stadt heute noch nicht tun. Die ehemaligen Soldaten der palästinensischen Befreiungsarmee, die in den letzten Wochen als zukünftige Polizisten des Autonomiegebiets aus verschiedenen arabischen Staaten in den Gaza-Streifen zurückgekehrt sind, genießen es sichtlich, in der begeisterten Menge aufzugehen. Heute, am ersten Tag der Autonomie des Gaza-Streifens, ist ihre Anwesenheit das sinnfälligste Symbol für das Ende der israelischen Besatzung, für den Neuanfang. Die Polizisten bilden einen Kreis und tanzen auf der Straße, mit schwingenden Beinen und über den Köpfen geschwungengen Kalaschnikows. Wenn es so weiterginge ...

Die letzten israelischen Soldaten hatten während der Nachtstunden zum Mittwoch vergeblich versucht, ohne großes Aufsehen aus dem seit gestern autonomen Gaza- Streifen abzuziehen: Doch kaum jemand hatte diese Nacht schlafend zugebracht; Menschenmassen drängten sich auf den Straßen. Sie bereiteten den Besatzern mit Steinen und Gejohle einen Abschied, den sie nicht so schnell vergessen werden. Noch einmal wurde Tränengas eingesetzt. Später rühren die Detonationen in den Straßen nur noch von Gewehrsalven, die Bewohner der Stadt aus Freude in die Luft abgeben. Es sind Waffen, die illegal im Besitz von Palästinensern sind.

Als es hell wird, sieht der Gaza- Streifen tatsächlich ein bißchen verwandelt aus. Sicher ist das nur Einbildung, aber alle empfinden es so. Plötzlich nimmt man das Elend und den Schmutz nicht mehr so richtig wahr. Plötzlich sieht man die Sonne und das Meer. Auf einmal sagt der Taxifahrer, wie schön Gaza doch sei. Dabei waren bislang immer alle entrüstet über diesen verkommenen Landstrich.

Aber es gibt auch schon wirkliche Veränderungen an diesem Tag. Verschwunden die martialischen Sperren der israelischen Militärs, die alle paar hundert Meter die Straßen blockierten. Alles ist offen, auch der Weg am Meer. Man geht an Fischern vorbei und an vielen verlassenen Militärlagern. Und die Menschen dürfen nach sieben Jahren Ausgangssperre ab 8 Uhr abends auf einmal wieder auf die Straße. Sie dürfen herumlümmeln oder flanieren, Freunde besuchen oder in eines der wenigen Restaurants gehen. Und sie dürfen das am meisten verhaßte Gebäude in der Stadt inspizieren: das Gefängnis. Viele sahen ihre Angehörigen für Jahre hinter seinen Toren verschwinden, viele kennen es von innen. Sie erinnern sich an die kleinen Zellen, an die Verhöre, an die Folter. Die Kinder haben schulfrei. Der Beginn der Autonomie wird wie ein Feiertag begangen. Wenn es so weiterginge...

Aber so wird es nicht weitergehen, und das ist auch allen klar. Die Probleme, die in Gaza auf die Menschen zukommen, sind zahllos, die Lösungsmöglichkeiten gering. Wo anfangen? Es gibt keine Arbeitsplätze, von Ausbildungsmöglichkeiten ganz zu schweigen. Es gibt kein funktionierendes Bankensystem, keinen Tourismus. Zehntausende dürfen das israelische Kernland „aus Sicherheitsgründen“ nicht mehr betreten, die Arbeitslosenquote liegt bei 60 Prozent. Es gibt keine Müllabfuhr, kein Abwassersystem, das Elektrizitätsnetz ist marode, das Telefonnetz ebenso.

Aber noch gravierender sind die politischen Probleme. Der Gaza- Streifen soll autonom werden, sich selbst verwalten, ein soziales und wirtschaftliches Leben etablieren, das in 27 Jahren israelischer Besatzung fast vollkommen zum Erliegen gekommen ist.

Da ist zum Beispiel das Problem der illegalen Waffen, die sich zu Tausenden in den Händen von Mitgliedern der oppositionellen islamischen Hamas befinden sollen. Die sagen zwar, daß sie nicht innerhalb des autonomen palästinensischen Gebietes operieren wollen. Aber herausgeben werden sie die Waffen auch nicht. „Niemand kann uns unsere Waffen nehmen“, sagt Mahmoud Zahhar, Direktor der Islamischen Universität und einer der Hamas-Sprecher. „Wir sind bestens organisiert, und auch innerhalb der Hamas wissen nur ganz wenige, wo sich die Waffen befinden.“ Das ist glaubwürdig. Hamas läßt auch keine Gelegenheit ungenutzt zu betonen, daß die Angriffe gegen die israelischen Besatzer weitergehen werden. Gegen wen werden sie künftig ihre Angriffe richten? Auch gegen Siedler im autonomen Gaza-Streifen?

Gerade haben Hamas-Leute zwei Siedler aus der Westbankstadt Hebron erschossen. Die Verantwortung für die Morde übernimmt Hamas per Megaphon aus einem Auto, das durch Gaza-Stadt fährt. Am Abend vor dem endgültigen Abzug der letzten Israelis feierten auch sie ein großes Fest in Gaza-Stadt. Tausende von Zuschauern nahmen teil, klatschten in die Hände und johlten über einen Witz, der über Rabin und Peres erzählt wurde. Hamas ist im Alltagsleben des Gaza-Streifens sehr präsent.

Seit 1989 gibt es kaum noch eine Frau, die sich trauen würde, ohne eine Kopfbedeckung auf die Straße zu gehen. „Ich habe die Erfahrung schmerzlich gemacht“, sagt Itimar Muhanna vom „Büro für Frauenangelegenheiten“ in Gaza-Stadt. „Ich wollte mich nicht erpressen lassen, ich wollte keine Kopfbedeckung tragen.“ Sie hat versucht, bei anderen Frauen Unterstützung zu bekommen, wurde aber abgewiesen. Darum lohne es doch nicht zu kämpfen, sagte man ihr, und schließlich gab sie nach. „Die Frauen haben zwar in der Intifada gekämpft, haben auch oft genug ganze Familien am Leben erhalten.“ Ein Bewußtsein für die Gleichberechtigung von Frauen sei dadurch noch lange nicht entstanden.

Auch der Rechtsanwalt und Vorsitzende einer Menschenrechtsorganisation in Gaza, Raji Sourani, gibt eine eher düstere Prognose. „Das gesamte Rechtssystem ist verstümmelt“, sagt er, und es werde sich auch in der kommenden Zeit nicht entwickeln lassen. Von den rund 1.300 Militärerlassen der Israelis würden nur knapp hundert außer Kraft gesetzt. „Nur die Bereiche Erziehung, Gesundheit, Tourismus, Soziales, Steuern obliegen den palästinensischen Autoritäten.

Es gibt nur vierzehn Richter, die in der Lage wären, eine zivile Gerichtsbarkeit aufzubauen. Für fast alle Delikte bleiben erst einmal israelische Militärgerichte zuständig.“

Das „Grundgesetz“, das von Arafats Rechtsexperten gerade entwickelt wird, erachtet Sourani als einen „Witz“. Jeder, der sich auskenne, wisse, daß es für eine Verfassung einen Staat geben müsse, der aber sei nicht in Sicht. Solange die Frage der Siedlungen und der Flüchtlinge nicht gelöst sei, solange über Jerusalem nicht verhandelt werde, so lange könne er der Zukunft nicht optimistisch entgegensehen.