Es ist kaum zu übersehen – die Europawahlen drohen. Wohin wir uns bewegen, ob zum Arbeitsamt oder in den kollektiven Freizeitpark – Wahlplakate allerorten. Auf die von SPD und CDU hat die taz eine Kunsthistorikerin angesetzt, die seit Jahren für die ARD-Reihe „1.000 Meisterwerke“ berühmte Bilder deutet. Von Gisela Hoßmann

Zwei europäische Meisterwerke

Das Plakat, mit dem die SPD zur Europawahl 1994 aufruft, zeigt im linken Teil einen Arbeiter, der, mit einem Seil gesichert, hoch oben in schwindelnder Höhe seine Arbeit verrichtet. Das Bild ist von unten aufgenommen, der Arbeiter ist gegen einen strahlend blauen Himmel fotografiert. Die wenigen sichtbaren Bauteile der Konstruktion, an der er sich zu schaffen macht, lassen vermuten, daß er Träger eines Hochhauses oder einer Brücke montiert. In seiner Kleidung setzt sich der Mann nur durch seinen leuchtend gelben Sicherheitshelm vom Hintergrund des tiefblauen Himmels ab.

Das Foto, das formal wie ein konstruktivistisches Bild aufgebaut ist und zudem an die Plakatkunst der zwanziger Jahre erinnert, nimmt genau die Hälfte der gesamten Plakatfläche ein und steht in absolutem Kontrast zu dem danebenliegenden typographisch gestalteten Teil. In großer schwarzer Schrift auf weißem Grund ist die Forderung der SPD zu lesen: „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ Gleich dreifach wird dem Betrachter des Plakates diese Forderung entgegengeschleudert, die noch unterstrichen wird durch den quer zur Schrift aufgedruckten Zusatz „Sicherheit statt Angst“. Die SPD hat damit eines der brennendsten und schlagkräftigsten Themen der derzeitigen Politik in Deutschland und Europa zu ihrem Wahlkampfthema gemacht.

Der blaue Himmel, vor dem der Arbeiter fotografiert ist, greift symbolisch die Farbe der Europaflagge auf und kann so als Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten gewertet werden: für den Mann, der gerade an der Arbeit ist, für jeden, der um seinen Arbeitsplatz bangen muß, aber auch für die vielen, die bereits ohne Arbeit sind. Die Gemeinschaft schafft Arbeit, Arbeit schafft Sicherheit für den einzelnen, für dessen Familie und damit wiederum auch für die Gemeinschaft. Arbeit nimmt die Angst vor der Zukunft – in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht: Das ist die Aussage dieses Plakates, das von jedem, der darauf stößt, sofort verstanden werden kann, selbst wenn er sich nicht die Mühe macht, es länger zu betrachten.

Durch den einfachen Aufbau, die strikte Zweiteilung der Bildfläche, die Eindeutigkeit der kräftigen Farben und die typographische Klarheit gewinnt das Plakat an Schlagkraft. Das Emblem der Partei – weiße

Buchstaben auf rotem Quadrat – ist im unteren Teil der weißen Fläche an den rechten Plakatrand gerückt. Dieses rote Quadrat wiederholt sich in Kleinformat in der linken oberen Ecke der bildlichen Darstellung, hier jedoch ohne Hinweis auf die Partei. Es springt dem Betrachter geradezu entgegen, denn der blaue Grund des Himmels verstärkt die optische Wirkung des roten Vierecks und gibt ihm fast plastischen Charakter. Bild und Schrift, Form und Inhalt dieses Wahlplakates ergänzen sich zum Vorteil der Aussage. Seine Funktion ist damit voll erfüllt, seine Intention, im Trubel und der Vielfalt der großen Städte möglichst nicht übersehen zu werden, wahrscheinlich auch.

Dennoch ist eines fraglich: ob nämlich die SPD mit einem ästhetisch schönen Bild des Arbeiters ihre traditionellen Wählerschichten wirklich noch erreichen kann. Denn der Mann auf dem Gerüst repräsentiert nicht den verschwitzten und verschmutzten Schwerstarbeiter im Blaumann, den es auch heute noch gibt. Hier ist eher ein junger Mensch in Designerjeans fotografiert, der einen Ferienjob verrichtet. Das aber entspricht den ursprünglichen Ideen der Arbeiterbewegung nicht.

Eine junge Familie geht im Wald spazieren. Die Sonne fällt durch das frische grüne Laub der Bäume, am Wegesrand blühen üppig wilde Blumen. Vater und Mutter haben ihren kleinen Sprößling schützend in ihre Mitte genommen und geleiten ihn behutsam auf dem Weg, der sich im Hintergrund zwischen dicken Buchenstämmen im Ungewissen verliert. Ihr Hund begleitet sie, ein friedliches Tier, wie es scheint; als einziger der Gruppe blickt er sich neugierig nach dem unsichtbaren Betrachter der Szene um.

Mit diesem Motiv wirbt die CDU für die Europawahlen 1994. Ihr Slogan – in großen weißen Lettern auf blauem Grund (der Farbe der Europa-Fahne) am oberen Rand über die gesamte Bildbreite gelegt – lautet: „Gegen Krieg, Gewalt und Terror in Europa: Frieden für alle!“ Ganz unten, auf neutralem weißen Grund, ist der Satz zu lesen: „Sicher in die Zukunft!“ Darunter in leuchtendem Rot der Name der werbenden Partei. Die Farben der bundesdeutschen und das Emblem der Europa-Flagge, die am unteren Rand in das Bild eingefügt sind, verweisen auf das Anlie

gen dieser Plakataktion, ohne jedoch direkt auf die Wahlen anzusprechen. Vom Bürger wird erwartet, daß er informiert ist, ja selbst den Wahltermin im Kopf hat.

Um den Begriff Frieden zu illustrieren, greift das großformatige Farbfoto auf gängige Bildmuster zurück, die seit der Romantik in Malerei und Literatur Tradition haben: die stille Natur als Metapher für den äußeren und inneren Frieden der Gemeinschaft und des einzelnen. Dieser vermeintliche Friede spiegelt sich wider in einer ungetrübten Harmonie zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, den Blumen, Bäumen und Tieren (der Hund gehört zur Familie!). Für das beginnende 19. Jahrhundert hatte diese romantische Vorstellung, die in unzähligen Landschaftsbildern ihren Ausdruck fand, noch ihre Berechtigung, für das ausgehende 20. Jahrhundert hingegen erscheint sie paradox, da zwischen dieser Vorstellung und der Realität heute eine breite Lücke klafft.

Die Aufgabe eines politischen Plakates sollte sein, auch mit der bildlichen Darstellung gezielt und realitätsbezogen auf die jeweils gestellten Forderungen einzugehen, um dem Bürger konkret zu zeigen, wo und wie verantwortliches Handeln ansetzen kann. Pseudoromantische Bilder führen an der Wirklichkeit vorbei, denn der kritische Wähler läßt sich nicht bedingungslos an die Hand nehmen wie das kleine Kind von seinen Eltern, um auf sonnigen Pfaden durch Wald und Feld einer sicheren Zukunft entgegenzugehen. Der Weg nach Europa ist steinig, der notwendige und berechtigt geforderte Kampf gegen Krieg, Terror und Gewalt ist hart, die Idylle blendet nur.

In den nächsten Wochen wird das so beruhigend wirkende Plakat auf unzähligen Werbeflächen und Hauswänden prangen, um die Bürger unseres Landes an Europa zu gemahnen. Die Losung der Partei ist zwar für jedermann deutlich zu lesen, sie ist auch im flüchtigen Vorübergehen aufzunehmen und zu verstehen, die bildliche Darstellung hingegen ist zu nuancenreich und detailliert. In einem Plakat, das sich in der verwirrenden Vielfalt einer Großstadt beispielsweise durchsetzen soll, dürfen Typographie und Bild übertrieben aggressiv sein, um nicht übersehen zu werden. Das Foto mit Vater, Mutter, Kind und Hund hingegen ist einfach nur schön.

Fotos:

Christian Schulz/Paparazzi