Haut und Knöchelchen

■ Rhythmische Finals in der Sportgymnastik: Mädchen, zart wie die Wellensittiche / Aber, warum sehen sie alle gleich aus? Von Turnfestkorrespondentin Sannah Koch

Moment mal, hatte die nicht gerade noch ein rosa-farbenes Leibchen an? Blätter, blätter... War das nun die eine vom TSV Schmiden oder die von 1860 München...? Warum haben die bloß auch noch alle die gleiche Frisur? Und welche soll nun der bildhübsche Mega-Mädchenstar sein? Blätter, blätter... Scheiß– Progammheft, da findet man ja wirklich nix. Gott sei Dank gibt–s noch Kollegen – und die kleben plötzlich wie Fliegen an einer dünnen Pinkfarbenen – dann muß sie das wohl sein, die „schöne Magdalena“. Brzeska – sprich Scheska. Die schon am Vortag den Deutschen Meisterschaftstitel eingesackt hat (und millionenschwere Film-, Werbe- und Modellverträge).

Aber, ganz unter uns – hätte sie nicht dauernd diesen riesigen Beschützer an ihrer Seite, könnte man sie echt nicht von den anderen Mädchen unterscheiden. Fast durchsichtig dünn sind sie alle, die zehn Gymnastik-Elfchen, die am Mittwoch abend zu den Einzelfinals der Rhythmischen Sportgymnastik in der verdunkelten Messehalle 6 auf der Matte aufmarschiert sind. Nur Haut und biegsame Knöchelchen. Fast so zart anzusehen wie der kleine blaue Wellensittich auf dem Dach von Halle 5, den sich zahlreiche eifrige Turnfestbesucher vor Wettkampfbeginn einzufangen mühen. Der so zierlich vom Dach flattert wie die Fräuleins mit ihren fünf Turngeräten über die Wettkampf-Fläche.

Und dann die überaus spannende Frage: Wird sich eins der Geräte Seil, Band, Ball, Reifen oder Keulen – hochgeschleudert, um grazil im Purzelbaum wieder aufgefangen zu werden – in den abgehängten Lichtleisten über der Matte verheddern und die Turnerin mit leeren Händen im Stich dastehen lassen? Und was wird das Schiedsgericht dazu sagen – höhere Gewalt vielleicht? Oder einfach nur Punktabzug? Fragen über Fragen.

Die Suche nach Antworten hat sie aber wieder nicht gefüllt, die Halle 6. Eintrittspreise von 35 Mark haben dem Wissensdurst der Turnbegeisterten ganz offenkundig einen Dämpfer verpaßt. Andererseits ist sie aber doch voll. Von erregtem Gequicke der Mannschaftskolleginnen, frentischem Jubel und Beifall der Fans und vor allem voll stehender Hitze.

Die Gymnastinnen bleiben jedoch voll konzentriert, gilt es doch, die Dominanz der Brzeska wenigstens im Einzel zu durchbrechen. Am Rande der Turnfläche verbiegen sie vor dem Auftritt hektisch und mit hypnotisch starrem Blick ein letztes Mal ihre Knochen, überdehnen die Beine in schamloser Grätsche, kugeln schnell nochmal das eine oder andere Schultergelenk aus, werfen Keulen scheinbar achtlos in die Höhe, fangen sie ebenso nebensächlich hinter dem Rücken wieder auf. Um dann auf der Matte zur Musik eine vollendete Mischung aus Grazie, Akrobatik, Lässigkeit, Spannung und schier unglaublicher Biegsamkeit vorzuführen.

Kaum zu beurteilen, welches der Geräte den höchsten Schwierigkeitsgrad birgt. Das Seilchen, das, in die Luft geworfen, sich nicht plangerecht in die nach oben gereckten Hände zurückbegibt? Der Ball, dessen hintertückischer Drang zu eigenständiger Fortbewegung auch dem Laien bekannt ist? Oder diese Keulen: Die eine dreht sich zweimal in der Luft, die andere rotiert knapp (!) unter der Lichtleiste, während unten die Künstlerin leichtfüßig ihren Körper verdreht – und patsch, fällt das blöde Ding zwei Zentimeter zu weit rechts auf den Boden. Unglücke, die allerdings nur selten geschehen. Denn Perfektionistinnen sind sie alle, mit sichtbarem Leistungsgefälle zwar, aber mit meisterhaftem Koordinationsvermögen.

Und tatsächlich, einmal gelingt es: Die schöne Magdalena wird beim Tanz mit dem Seil von der Blumenthalerin Nicole Gerdes ein Treppchen tiefer geschickt. Ansonsten treffen sich die beiden in umgekehrter Konstellation bei den restlichen Finals auf dem Podest. Allerdings: Den Beifall-Rekord hält Martina Smetak; die Münchner Fan-Riege ist schier unerbittlich.

Unerbittlich auch der Männer-Wettkampf vor der Tür: Balancieren voller Bierbecher vom Tresen zum Stehtisch. Ein Akt vollkommenen Koordinationsvermögens – samt Bauchhalten und dem Gestöhn: „Was wären wir ohne die Tatkraft der Frauen gewesen?“ Aber niemand klatscht.