LehrerInnen proben den Aufstand

Eintägiger Warnstreik an Ostberliner Schulen / LehrerInnen fordern volle Angleichung an die Westgehälter / 27.000 Schüler hatten frei / Schulsenator kritisiert Streik als „unverantwortlich“  ■ Von Anja Nitzsche

Die langen, kahlen Gänge der 9. Grundschule Berlin-Mitte sind verwaist. Kein Kindergeschrei, die Pausenräume sind leer, die lange Reihe von braungestrichenen Holztüren bleibt geschlossen. Im Lehrerzimmer geht es dagegen hoch her. „Es reicht uns jetzt. Weniger Lohn für die gleiche Arbeit – damit geben wir uns nicht mehr zufrieden!“ wettert die Horterzieherin Petra-Susanne Krüger. Die 25 hier versammelten Lehrerinnen und Erzieherinnen sind sich einig: Auf das Geschenk einer hundertprozentigen Gehaltsangleichung an die Westtarife wollen sie nun nicht mehr kampflos warten. Im Hintergrund dampft die Kaffeemaschine, die frischen Brötchen auf dem kleinen Frühstücksbuffet finden reißenden Absatz.

Mehr als dreitausend Ostberliner LehrerInnen und ErzieherInnen aus Prenzlauer Berg und Mitte sind gestern morgen um 6 Uhr in einen eintägigigen Warnstreik getreten, 65 von 66 Schulen der Bezirke blieben geschlossen. Lediglich am Carl-Phillipp-Emmanuel- Bach-Gymnasium, einer ehemaligen Eliteschule der DDR, wurde der Streikaufruf nicht befolgt. Für die knapp 27.000 betroffenen Schüler ein Grund zur Freude, immerhin bescherte ihnen diese Aktion ihrer „Pauker“ einen zusätzlichen freien Tag. Der Warnstreik sollte nach den Worten des Berliner Chefs der Gewerkschaft Wissenschaft und Erziehung (GEW), Gerhardt Laube, die Politiker dazu bewegen, endlich ihre oft wiederholten Versprechen zu einer Tarifangleichung einzuhalten. Immerhin hatte Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) am 14. Oktober 1991 im Abgeordnetenhaus erklärt, es sei feste Absicht des Senats, bis zum übernächsten Jahr (also 1993) zu einer vollen Angleichung der Gehälter zu kommen.

Davon haben die PädagogInnen Ostberlins allerdings noch nichts gemerkt. Im Gegenteil: Sie sind doppelt benachteiligt. Generell wurden sie ein bis zwei Gehaltsgruppe niedriger eingruppiert als ihre Westkollegen. Von dieser niedrigeren Gehaltsstufe erhalten sie nur 80 Prozent des im Westen üblichen Tariflohns. „Im Endeffekt kommen wir auf maximal 74 Prozent, das sind mindestens 1.700 Mark weniger“, meint Petra-Susanne Krüger kopfschüttelnd. „Ich verstehe die Welt nicht mehr. Da wohne ich in Pankow, gleich nebenan ist der Wedding. Es sind sowohl Ost- als auch Westschüler, die dort zur Schule gehen – wo ist da der Unterschied?“

Gerade auch die Grundschullehrer fühlen sich diskriminiert. Nicht nur finanziell, sondern auch fachlich werden sie abqualifiziert. Zum allgemeinen Frust kommt bei ihnen hinzu, daß ihr Fachschulabschluß, den sie noch zu DDR-Zeiten als Unterstufenlehrer gemacht haben, nicht anerkannt wird. Um nun den Unterricht in der fünften und sechsten Klasse der Grundschule durchführen zu können, müssen sie noch einmal für zwei Jahre eine spezielle Qualifizierung über sich ergehen lassen. Und auch danach ist nicht gesichert, daß die LehrerInnen in eine höhere Gehaltsstufe rutschen. Karin Karschnik, Vertrauensfrau an ihrer Schule, platzt dann auch der Kragen: „Diese Art und Weise, mit unseren Abschlüssen umzugehen, ist doch eine absolute Frechheit!“

Das Geschehen verlagert sich langsam vor die Schule, denn zu einem Streik gehört auch eine kulturelle Einlage. Lehrerinnen und Erzieherinnen treffen sich unter dem Holunderbusch und frönen deutschem Volksliedgut. Die Stimmung bleibt trotzdem gereizt.

Denn schon die Kultusministerkonferenz im Mai vergangenen Jahres in Greifswald hatte im Hinblick auf die Deklassierung der OstpädagogInnen eine behutsame Angleichung an die Westgehälter sowie eine Anerkennung der entsprechenden Abschlüsse empfohlen. Ohne Erfolg. Lediglich eine zweiprozentige Lohnsteigerung bis Oktober 1994 und eine weitere im Herbst des kommenden Jahres ist vorgesehen. Dabei wäre das Geld für eine hundertprozentige Anpassung durchaus vorhanden. Für 1995 sind in der mittelfristigen Finanzplanung des Senats für Personalkosten 15,2 Milliarden Mark eingeplant, also 1,2 Milliarden mehr als in diesem Jahr. Selbst Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) bestätigte, „eine Angleichung der Osttarife im öffentlichen Dienst auf Westniveau“ sei möglich.

Daran scheint bisher niemand interessiert zu sein. Die Tarifkommission, in der die GEW vertreten ist, hat nach zwei Monaten erfolglosen Verhandelns ein auf den 5. Mai befristetes Ultimatum an den Innensenator gestellt und einigungsfähige Angebote eingefordert. Für Karin Karschnik ist klar: „Es mußte etwas passieren, sonst sind unsere Kinder die Leidtragenden!“ Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) sieht das allerdings anders. Er empfindet das Verhalten der LehrerInnen als „unverantwortlich“. Der Streik richte sich einzig und allein gegen die Schüler. „Völlig unsinnig“ findet Karin Karschnik diese Argumentation: „Wer Lehrer entläßt, Klassen mit Schülern vollknallt und Kindereinrichtungen und Jugendklubs schließt, der handelt unverantwortlich gegenüber den Kindern, nicht wir!“

Gegen halb zwölf machen sich die LehrerInnen und ErzieherInnen der 9. Grundschule auf den Weg zum Alexanderplatz. Mehrere hundert PädagogInnen haben sich hier bei strömendem Regen vor dem „Haus des Lehrers“ versammelt und fordern Innensenator Heckelmann auf, endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen.