Tschernobyl-Bombe tickt lauter

■ IAEO-Experte berichtet über haarsträubende Zustände in Tschernobyl / EU bringt eigene Experten zum Schweigen

Stuttgart (taz) – Über acht Jahre nach dem Atomunfall von Tschernobyl dümpeln die Nachrüstungsmaßnahmen an dem Reaktorkomplex vor sich hin. Lange angekündigte Verbesserungsmaßnahmen an den noch laufenden Blöcken sind immer noch nicht abgeschlossen. Bei ihrer letzten Mission im März dieses Jahres stieß eine Expertenkommission der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) neben den bekannten Sicherheitsdefiziten auf weitere haarsträubende Mängel: Die komplexen Rohrsysteme zur Kühlung des Reaktors können nicht überwacht werden. Der Bericht über die Mission wurde von der ukrainischen Regierung allerdings nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Das berichtete Luis Lederman von der Wiener Atombehörde zum Abschluß der Jahrestagung Kerntechnik '94 in Stuttgart.

Die fehlenden Möglichkeiten zur Inspektion der Rohre seien deshalb ein „sehr kritisches Problem“, weil in anderen Anlagen desselben Typs, die über entsprechende Überwachungsgeräte verfügen, gefährliche Risse und Fehler gefunden wurden und das Abschaltsystem insbesondere der Tschernobyl-Blöcke 1 und 2 bei größeren Rohrabrissen den Reaktor nicht vor dem Durchbrennen schützt.

Als „sehr ernste Schwächen“ kritisierte Lederman auch die Tatsache, daß die Hauptdampfleitungen unmittelbar über dem Kontrollraum verlaufen und gleichzeitig eine Notwarte für den Ernstfall fehlt. Außerdem gebe es immer noch erschreckende Mängel beim Brandschutz der Anlage.

Viktor Glygalo vom staatlichen ukrainischen Komitee für Reaktorsicherheit in Kiew berichtet über zahlreiche, häufig im Ansatz gescheiterte und vergebliche Versuche, den Meiler sicherer zu machen. So sei der Reaktivitätskoeffizient, der darüber entscheidet, ob bei Störfällen die nukleare Kettenreaktion ansteigt oder zusammenbricht, immer noch positiv. Im Klartext: Der Meiler hat nach wie vor einen permanenten Hang zum Durchgehen. Dennoch glaubt Glygalow, sei „eine Wiederholung des Unfalls von 1986 praktisch ausgeschlossen“. Nach einer entsprechenden Entscheidung des ukrainischen Parlaments vom Oktober 1993 sollen mit Ausnahme des 1986 explodierten Blocks 4 alle Einheiten weiterbetrieben werden. Block 2, in dessen Turbinenhalle 1992 ein Großfeuer ausbrach, soll laut Glygalow Anfang kommenden Jahres wieder ans Netz gehen, Block eins nur noch laufen, wenn es „absolut notwendig“ ist. Der etwas jüngere Block 3 wird noch weitere drei bis vier Jahre „ertüchtigt“, versicherte Glygalo. Zwischen 1997 und 2002 wären an den verschiedenen Reaktoren weitreichende Erneuerungsarbeiten durchzuführen. Bis dahin will die Ukraine jedoch mit westlicher Unterstützung sechs neue Druckwasser-Reaktoren sowjetischer Bauart als Ersatz für die Tschernobyl-Zentrale fertigstellen.

Für erhebliche Verärgerung bei den Veranstaltern der Atomtagung sorgte ein Maulkorb, den der EU-Direktor Rolf Timans sich und sämtlichen Wissenschaftlern umgebunden hatte, die in Stuttgart über eine EU-finanzierte Untersuchung zum Zustand der Tschernobyl-Reaktoren berichten sollten. Vor der öffentlichen Präsentation der Ergebnisse im Juni sei der Bericht „streng geheim“, ließ Timans die verdutzten Wissenschaftler wissen. Seinen eigenen Plenarvortrag ließ der Eurokrat am Tag vor dem geplanten Auftritt von seiner Sekretärin per Fax absagen. Die Art und Weise des EU-Rückzugs sei „an Unfreundlichkeit kaum zu überbieten“, meinte einer der Organisatoren. Gerd Rosenkranz