Safer Sex für Sozialhilfeempfänger

■ Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet: Der Staat muß für Sozialhilfeempfänger Kondome bezahlen

Berlin (taz) – Auf den ersten Blick ein kurioser Rechtsstreit, mit dem sich das würdige Bundesverwaltungsgericht gestern befaßte: Vor Gericht steht das Kondom. Hinter ihm die Streitfrage: Wer – im Namen des Volkes – muß es bezahlen? Müssen die Sozialämter die Kosten für das schützende Gummi übernehmen? Oder ist das runde Teil unter Kaffee, Seife, Kinokarte und Margarine schon im imaginären Warenkorb versteckt, den der Staat Hilfeempfängern zubilligt? Was absurd klingt, hat einen ernsthaften Hintergrund: Seit Mitte der 80er Jahre streiten in Hamburg ein schwuler und ein heterosexueller Sozialhilfeempfänger unabhängig voneinander um die Kostenübernahme für ihre Kondome. Das Recht auf Sexualität, so ihr Argument, sei ein Teil der Menschenwürde. Doch um diese Sexualität ausleben zu können, seien zum Schutz vor Aids und zur Empfängnisverhütung Präservative unabdingbar. Was millionenteure Anzeigenkampagnen staatlich propagieren, wurde gestern vom Bundesverwaltungsgericht in Berlin bestätigt: Der Staat muß bei Sozialhilfeempfängern unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten für Kondome übernehmen.

Einen lächerlich geringen monatlichen Zuschuß verlangten die Kläger von ihrem Sozialamt. Doch während die Sozialämter anderer Städte längst Gratis-Kondome oder Kondom-Rezepte an ihre Klientel ausgeben, schaltete die Hamburger Sozialbehörde auf stur: Sexualität gehöre zur alltäglichen Bedürfnisbefriedigung, und deren Kosten seien mit dem Regelsatz bereits gedeckt. Die Sozialhilfe gestatte nun mal keine maximale Bedürfnisbefriedigung, und wer sie trotzdem will, muß sich eben an anderer Stelle einschränken.

Dies sah das Hamburger Verwaltungsgericht anders. Es gestand den Klägern einen monatlichen Zuschuß zwischen 10 und 25 DM für Kondome und Gleitcreme zu.

Doch die Behörde, die zur gleichen Zeit Gratis-Kondome an Taxifahrer verteilen ließ, ging in die nächste Gerichtsinstanz und bekam Recht. Denkwürdiger Leitsatz aus dem Urteil des Hamburger Oberverwaltungsgerichts: „Sozialhilferechtlich ist dem Hilfesuchenden deshalb anzusinnen, seine Lebensführung auch in diesem Bereich in einer Weise zu gestalten, daß er die dafür erforderlichen finanziellen Mittel aus der Regelsatzhilfe bestreiten kann. Daß eine gegebenenfalls notwendige Einschränkung der Gewohnheiten im Sexualleben bereits die Menschenwürde verletzen würde, ist nicht ersichtlich.“

„Ist das noch menschenwürdig“, fragte Rechtsanwalt Thomas Breckner gestern vor dem Bundesverwaltungsgericht, „wenn man von einem Sozialhilfeempfänger verlangt, daß er hungert oder sich nicht mehr wäscht, um ein Sexualleben haben zu können?“ Eine Argumentation, die die Vertreter der Hamburger Sozialbehörde mit ihren stattlichen Beamtengehältern gestern zurückwiesen: Der Sozialhilferegelsatz sei „ausreichend bemessen“, notfalls müßten Sozialhilfeempfänger eben auf Anderes verzichten.Und auch die Argumentation des Anwalts, daß eine eventuelle Aids-Infektion die öffentliche Hand viel teurer kommen könnte, leuchtete ihnen nicht ein. Die fünf (männlichen) Richter machten bedenkliche Miene zu diesem Spiel. Und entschieden im „Kondomstreit“ zu Gunsten der Sozialhilfeempfänger. Vera Gaserow