Rettet den Sozialstaat!

■ 120 SozialwissenschaftlerInnen kritisieren in einem Aufruf das Versagen der Politik

Berlin (taz) – Weil sie nicht mehr mit ansehen wollten, wie Armut und Arbeitslosigkeit den Sozialstaat Bundesrepublik aushöhlen, haben gestern mehr als 120 deutsche SozialwissenschaftlerInnen in Frankfurt eine Erklärung zum „Superwahljahr“ präsentiert. Unter dem Titel „Solidarität am Standort Deutschland“ kritisieren sie, daß Politik und Wirtschaft keinen „ernsthaften Willen erkennen“ ließen, der drohenden sozialen Spaltung der Gesellschaft entgegenzutreten. Der Aufruf wurde unter anderem von Friedhelm Hengsbach, Oskar Negt, Ulrich Beck, Wolf-Dieter Narr, Horst-Eberhard Richter, Ingrid Kurz-Scherf und Eva Senghaas- Knoblauch unterzeichnet. Eine solch massive Intervention von Intellektuellen hat es zuletzt Ende der Sechziger gegeben.

Die AutorInnen kritisieren, daß trotz des Geredes vom Wirtschaftsaufschwung eine verfestigte Massenarbeitslosigkeit von derzeit sechs Millionen Menschen die Demokratie bedrohe. Dies habe sich nach der Vereinigung noch verstärkt. Fast sieben Millionen Menschen lebten derzeit in Armut, rund 30 Prozent der Deutschen seien schon mindestens einmal in die Gefahr von Armut geraten.

Die WissenschaftlerInnen fordern als Sofortmaßnahmen nicht nur flächendeckende Arbeitszeitverkürzungen, sondern auch einen gezielten Ausbau des „zweiten Arbeitsmarktes“. Um dem Armutsrisiko entgegenzutreten, sollen Niedrig- wie Sozialeinkommen aufgestockt werden. Es gehe um Mindestsicherung, die aus Steuergeldern finanziert werden solle. „Langfristig müssen Reformvorschläge diskutiert werden, die auf ein staatlich garantiertes Grundeinkommen zielen.“

In dem 23seitigen Papier steht der Verfassungsauftrag des Sozialstaates zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet“ im Zentrum der Reflexion.

Alle AutorInnen betonen zugleich die nötige Reform des bundesdeutschen Sozialstaates. Angesichts der Herausforderungen durch die deutsche Vereinigung, die europäische wie auch die neue „weltgesellschaftliche Verantwortung nach außen“ müßten die Deutschen nachgerade eine „Neugründung der Bundesrepublik“ anstreben. „Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen allen Bürgern. Dieser Vertrag umfaßt die wechselseitige Verpflichtung, die gesellschaftliche Spaltung gemeinsam und nach persönlichem Leistungsvermögen anzugehen und zu überwinden. Dies liegt im Interesse aller.“ Andrea Seibel

Interview mit Iring Fetscher auf Seite 10

Dokumentation der Erklärung auf Seite 13