Der Park der Guanakos

■ Südamerikanisches Tagebuch, Teil 4: Torres del Paine Von Sven Veit

Er sieht aus wie der Bruder von Lothar Matthäus, und er ist genauso laberig. Mit breitem Grinsen stürzt er sich auf sein verwirrtes Opfer: „Hola, compañero, que tal?“ „Bueno, y tu?“ „Hablas español?“ „Un poco.“ „Hablas ingles?“ „Much better than spanish.“ „Me too, hahaha. Where you're from?“ „From Alemania, äh, Germany.“ „Oh, Alemania. Ich lernen deutsh.“ (Erwartungsvolles Gesicht). „Das hört sich schon sehr gut an.“ „Como?“ „Muy bien.“ „You're welcome.“

Eigentlich wollte ich nur den Mietwagen abholen, aber ein bißchen Konversation muß eben sein. Lothars Bruder führt mich zum leicht lädierten Lada: Der Kofferraum sei nicht abschließbar, weil der Schlüssel nicht auffindbar ist; der Tankverschluß dürfe nicht zugedreht werden, weil der Schlüssel abgebrochen sei; die Vorderachse habe einen leichten Knick, aber ich sei bestimmt ein besserer Fahrer als mein Vorgänger, einer dieser schwachsinnigen argentinos. Er entfernt den abgebrochenen Innenspiegel vom Beifahrersitz und verspricht mir den Segen Gottes und aller verfügbaren Heiligen: Der 200-Kilometer-Trip von Puerto Natales, dem windigen Kaff aus Wellblechhütten im äußersten Süden Chiles, nach Torres del Paine kann beginnen.

Der Nationalpark ist eine grandiose Landschaft aus Bergen, Gletschern und Wasserfällen, aus Seen und Steppe, Staub und Steinen. Auf einer Fläche von der Hälfte Schleswig-Holsteins leben etwa drei Dutzend Menschen: Parkwächter, Wildhüter und die Besatzung zweier Herbergen.

Seinen Namen verdankt der Nationalpark dem bis zu 3000 Meter hohen Gebirgsmassiv in seinem Zentrum: wuchtige Klötze aus Granit und Schiefer mit graubraunem Sockel und schwarzer Spitze, die bisweilen wie aufgesetzt aussieht. Mittendrin, wie Fremdkörper, die drei torres („Türme“): Zuckerhutähnliche hohe, spitze Felsnadeln, wie Zaunlatten in einer Reihe, beliebter Tummelplatz von Extremkletterern aus aller Welt, von denen längst nicht jeder auf seinen eigenen zwei Beinen zurückkehrt. In den Tälern unzählige Seen, tiefblau die einen, grau-türkis die anderen, die vom Wasser der drei großen Gletscher gespeist werden.

Torres del Paine ist das Reservat der guanakos. Die Urform des Lamas, in Südamerika fast ausgerottet, hat hier mit knapper Not überlebt. 100 Tiere gab es noch vor 20 Jahren, heute grasen hier wieder mehr als 3000 der schlanken, braunweißen Kamele.

In einem umfangreichen Tierschutzprogramm wurden Rinder und Schafe, die schärfsten Nahrungskonkurrenten der guanakos, aus dem Naturpark entfernt; Jungtiere werden für die ersten sechs Monate ihres Lebens in ein besonders bewachtes Gebiet evakuiert, bis sie schnell genug sind, um vor dem Puma zu fliehen. Früher fielen neun von zehn Jungtieren den mehr als 50 Berglöwen, die hier ihre Reviere haben, zum Opfer, heute sind es nur noch etwa 40 Prozent.

Rudelweise stehen die guanakos auf den wenigen Weiden in der Nähe der Seen, aufmerksam aber angstfrei. Ihre Fluchtdistanz von lediglich zehn Metern beweist, wie sicher sie sich inzwischen fühlen. Und wenn der eine oder andere Bulle sich dem neugierigen Menschen mit geradezu arrogant wirkender Gelassenheit in den Weg stellt, kommt letzterer um die Erkenntnis nicht umhin, daß er hier eigentlich nichts zu suchen hat.