Inzestuöse Lust

■ Tanztheater in der Roten Flora

Kinderwagen rasen zu Vivaldis Vier Jahreszeiten über die Bühne, eine Frau und zwei Männer sitzen nackt auf Tischen und stopfen sich angewidert Milchsuppe in den Mund, im Hintergrund ertönt die Melodie des ,Ave Maria'.

Die beeindruckende Premiere des Tanztheaterstücks Alle Tage wieder... unter der Leitung des Hamburger Choreographen Bernd Kühn behandelt das Thema Kindesmißbrauch in obszöner Deutlichkeit, schrill, laut, kraftvoll und spannungsreich. Die zehn Tänzer und sieben Tänzerinnen aus Hamburg und Rostock sprangen, tobten und wälzten sich zwei Stunden lang voller Energie und Einsatz auf der Bühne.

Die aus Tanz-StudentInnen und Berufstätigen zusammengewürfelte Gruppe zeigte deutliche und manchmal überdeutlich demonstrative Bilder ungezügelter, agressiver Lust inzestuöser Art.

Frauen in blumigen Kleidern reichen den Männern Babypuppen, die Männer herzen und küssen die Babys und haben, wenn sie sich dem Publikum zuwenden, blutverschmierte Münder. Leisere Tanztöne – Frauen drehen sich, Plastiktüten an den Händen, und wirken dabei wie aufziehbare Kunstfiguren – ließen an Tänzerinnen wie etwa Pina Bausch denken und hatten stärkere Wirkung.

Mit so deutlichen Worten wie „wenn du nicht aufißt, hab' ich dich nicht mehr lieb“ fühlte sich das Publikum aber allzusehr mit dem Holzhammer bearbeitet. Wenn die Musik auch hoffnungslos zu laut war – Premierenpanne! –, präsentierten doch die Tänzer und Tänzerinnen eine durchweg anspruchsvolle Choreographie.

Als die Männer auf der Bühne um einen Haufen Babypuppen herumstehen, hört man aus den Zuschauerreihen ein quäkiges Stimmchen fragen: „Was ist jetzt los?“. Die Frage stellt ein vielleicht dreijähriger kleiner Junge. Das hinterläßt denn doch ein etwas beklemmendes Gefühl.

Simone Ohliger

Rote Flora, noch bis Montag, 20 Uhr