Große Oper und kleines Konzert

Aix-en-Provence lockt Kunstbeflissene zwischen Marseille und Paris  ■ Von Peter Bausch

Die Stadt liegt zwar im Süden, aber nicht einmal am Meer. Der Cours Mirabeau ist eine prächtige Platanenallee, aber die Champs- Élysées in Paris sind viel breiter und länger. Der Hausberg, die Sainte-Victoire, ist mit rund tausend Metern Höhe überm Meeresspiegel im Vergleich zum Montblanc nur ein Hügel. Die Kathedrale reicht ihrer Schwester in Reims keineswegs das Wasser, und das Spielcasino, geschüttelt von Streiks und Besitzerwechsel, bedroht von Abriß und Umzug, ist gegenüber Monaco nur ein armseliges Refugium für versprengte Glücksritter. Und doch: Aix-en- Provence steht jedesmal ganz oben, wenn Umfrageinstitute herauskriegen wollen, wo die Franzosen am liebsten leben wollen.

„Wer hier geboren wurde, ist verloren. Nichts anderes gefällt einem mehr.“ Die verkappte Liebeserklärung hat Paul Cézanne vor hundert Jahren geschrieben. Dabei wurde der Vater der modernen Malerei ausgerechnet in seiner Heimatstadt zeitlebens verspottet. Historisch verbürgt ist, daß seine „Pinseleien“ Leuten wie dem Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard vom Dachfenster auf die Straße nachgeworfen wurden. Erst 1936, also dreißig Jahre nach dem Tod des Meisters, wurde das erste Werk Cézannes, bezeichnenderweise die Spende eines britischen Lords, im Granet-Museum aufgehängt. Erst seit 1984 verfügt Aix über eine kleine Sammlung, die wenigstens der Rede wert ist.

Immerhin, die Traumstadt Frankreichs, zu Cézannes Zeiten als „schöne Verschlafene“ bezeichnet, scheint aufgewacht zu sein. Die ehemalige Hauptstadt der Provence, nach der Französischen Revolution zum Provinznest degradiert, kümmert sich heute um das Erbe des Malerfürsten. Goldene Nägel symbolisieren die späte Ehrenrettung des Monsieur Cézanne in Aix. Die Bronzebrocken, von einheimischen Handwerksschülern in der École des Arts et Métiers gegossen und vom Verkehrsamt für 220 Francs das Stück verkauft, pflastern den (Lebens-)Weg des berühmtesten Aixers durch seine Innenstadt. Paul Cézanne würde sich auf den Spuren des großen „C“ immer noch wie zu Hause fühlen: das historische Zentrum hat trotz der urbanen Explosion in der Nachkriegszeit seinen Charakter weitgehend bewahrt.

Nur im Sommer müßte Paul Cézanne aufs Land ziehen. Der Trubel in der Stadt wäre dem Eigenbrötler, der seinerzeit vehement gegen die Einführung von Trottoirs wetterte, zutiefst zuwider. Aix schlägt nämlich selbst in der festivalsüchtigen Provence alle Rekorde. Die selbsternannte „Stadt der Künste“ zieht von Juni bis September alle Register: Musik in Höfen und Kirchen, Tanz auf Straßen und Plätzen, Kunst auf Gehwegen und in Galerien, Theater in Minikabaretts und grünen Parkanlagen. Gerade erst sind die Stühle für das Vorspiel zur lokalen Oper weggeräumt, zeigen Rad-Artisten auf dem Rathausplatz ihre Kunststücke zu Rockmusik aus dem Transistor. Sie sehen noch die verwunderten Blicke der Menschen in Smoking und Abendkleid, die gerade aus der Generalprobe einer Mozart-Oper zu den Cafés und Restaurants auf dem Cours Mirabeau strömen. Nur wenig zu spät, um den Tänzern zu applaudieren, die auf der Prachtstraße umsonst und draußen moderne Choreographien präsentiert haben.

Künstler beherrschen die Stadt. Das ist das Bild, das Aix sich jeden Sommer malt. Ein Traumbild, das allein in den heißen Monaten 350.000 Touristen anlockt, die Hälfte der Zahl, die das Verkehrsamt im Jahr registriert. Ein Traumbild, das tausend Facetten hat. Wie Aschenputtel und Königin der Nacht stehen sich die beiden Musikfestspiele gegenüber. Auf der einen Seite „Aix en musique“, das jeden Centime zweimal umdreht, mit bescheidenem Budget nette, unterhaltsame Barockopern wie Francesco Cavallis „La Calisto“ produziert und es sich sogar leistet, qualitativ durchaus ansprechende Konzerte zum Nulltarif ins Programm zu nehmen. Auf der anderen Seite das kulturelle Aushängeschild der Stadt, das „Festival d'Art Lyrique et de Musique“, die französische Konkurrenz von Bayreuth, Salzburg oder Glyndebourne. Die Opernfestspiele, 1948 von einer Marseiller Komtesse, einem Pariser Impresario und Hans Rosbaud, einem rheinischen Dirigenten, aus der Taufe gehoben, sind zum Sommertreffpunkt für die High-Society von Marseille und Paris geworden. Natürlich kritisch beäugt von den Einheimischen. Klar, die Festspiele sind chronisch defizitär, und selbst nachdem der Preis für die teuersten Billets 1993 auf 890 Francs gesenkt (!) wurde, bleiben die meisten Aixer draußen vor der Pforte zum akustisch blendenden Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palasts.

Festivaldirektor Louis Erlo zelebriert beileibe nicht nur sterile „hohe“ Kunst. Mit seinem Mut zum Risiko treibt er konservative Opernliebhaber auf die Palme. Die Provenzalen haben sich nämlich auf Barock und zeitgenössische Musik spezialisiert, holen sich dafür regelmäßig Preise und Auszeichnungen. Und Erlo denkt gar nicht dran, dem Aixer Gemeinderat die Millionenzuschüsse schmackhafter zu machen. Auch 1993 waren wieder Opern im Programm, die nicht nur in Frankreich allenfalls einer Minderheit geläufig sind. Schon mal Carl Maria von Webers „Euryanthe“ gehört? Oder „Orlando“ von Händel? In Aix lohnt sich die Entdeckungsreise. Regisseure wie letztes Jahr Hans-Peter Cloos oder Robert Carsen machen aus den Aschenputteln der Opernliteratur mitreißende, farbenfrohe, frech und gewagt inszenierte Spektakel.

Zwischen große Oper und kleine Konzerte schieben sich jeden Sommer noch Dutzende von Veranstaltungsreihen. Rund 16.000 BesucherInnen brachte 1993 das internationale Tanzfestival auf die Beine, mit einem eigens für die Stadt geschriebenen Musical ist sogar der Jazz gesellschaftsfähig geworden und ins Heiligtum des „Archevêché“ eingezogen.

Aber eigentlich bräuchte Aix die ganzen Festspiele gar nicht. Die Stadt sorgt von ganz allein für Spektakel. Das gilt vor allem für den Cours Mirabeau, in der Provence die Prachtstraße schlechthin. Im Sommer wegen seiner majestätischen Platanenreihen ein schattenspendender Grüntunnel, ist der „Cours“ das ganze Jahr über die quicklebendige Ader einer Stadt, die mühelos selbst unvereinbar scheinende Gegensätze unter einen Hut zu bringen vermag. Émile Zola hat in seinem Romanzyklus „Les Rougon-Macquart“ eine heute noch gültige Beschreibung von Aix, das in der Literatur „Plassans“ heißt, geliefert.

Wie zu Zolas und Cézannes Zeiten ist die rechte Straßenseite fein und gediegen. An der Grenze zum Nobelviertel, dem Mitte des 17. Jahrhunderts aufgebauten „Quartier Mazarin“, nichts als wunderschöne Fassaden, Karyatiden, Banken, eine Handvoll Luxusgeschäfte und Immobilienmakler. Auf der linken Seite, an der Grenze zum architektonisch chaotischen „Quartier populaire“, der fröhliche Trubel, Cafés, Geschäfte, Straßenmusikanten auf dem übervollen Gehweg. Sehen und Gesehenwerden, das ist hier die Devise. Einmal rauf, einmal runter. Das Volk hält seine Parade ab. Theaterbühne für den Alltag.

Wohlgefällig schaut die Statue des „guten Königs René“ auf das Treiben der Untertanen. Der Herzog von Anjou, Graf der Provence und (allerdings nur auf dem Papier) König von Neapel und Sizilien, hat zwar wie die allermeisten Adligen seiner Zeit zuerst aufs Geld geschaut, aber Aix trotzdem ein traumhaftes 15. Jahrhundert beschert. Damals war schon die Rede von der „Stadt der Künste“, schon damals florierten die Luxusgeschäfte, die den Palast mit Kleidern, Schmuck und allerlei Tamtam versorgten.

Aix ist heute noch das Schaufenster voller Widersprüche, voller kleiner Verrücktheiten. Die Festspiele dauern nur einen Sommer lang, aber das Traumbild hält das ganze Jahr: für Touristen und Einheimische, für 30.000 StudentInnen und hundert hohe Richter. Cézanne würde auch jetzt noch schreiben: „Wer hier geboren wurde, ist verloren. Nichts anderes gefällt einem mehr.“