■ Wir lassen lesen: Eisen-Dieter und der Zauberfrosch
Für keinen Verein in Deutschland haben sich Fans so eine schöne Privatmythologie zurechtgebastelt wie für den FC St. Pauli. Wenn man keine tollen Spieler hat (und wer hat die schon?), sondern Helden, die Woche für Woche auf das schönste menschliche Fehlbarkeit mit Hilfe von Fußball illustrieren, bleiben den Anhängern nur zwei Möglichkeiten: störrisches Wegbleiben oder hemmungslose Überhöhung. Mit seltener Kompromißlosigkeit hat man sich am Millerntor schon vor Jahren für die zweite, weit lustigere Variante entschieden.
Leonardo Manzi, den einzigen
Brasilianer, der nicht Fußball spielen kann, pfeift man daher nicht aus, sondern macht ihn zum umjubelten Liebling. Schon gar, wo er neuerdings vom erfolglosen Stürmer zum Manndecker umgeschult wird, der seinen Gegenspielern freundlichen Freiraum zum Ausagieren läßt. „Eisen-Dieter“ Schlindwein, ein finsterer Treter aus dem Mittelalter, der selbst für Waldhof Mannheim zu rustikal über den Platz holzte, wird zur Instanz in Abwehrfragen, und einer wie Klaus Ottens („Oddioddioddioddioddi“), leider in dieser Saison nicht mehr im Kader, stieg gar zur Legende auf. Ein Spieler fast bar jeglichen Talents, aber wundersamerweise mit der raren Gabe zum Übersteiger-Trick ausgestattet, avancierte unter diesen Umstän-
den sogar zum Namensgeber für eines der beiden großen St.-Pauli- Fanzines.
Dort, im Übersteiger, und davor im weltberühmten Millerntor Roar, hat Guido Schröter die paulianische Heldendichtung ins richtige Medium übersetzt: in Comics beziehungsweise Comix, wie es dort immer heißt. Da kommen sie, jetzt auch in dem Album „Voll Drauf“ versammelt, alle vor: neben Leo, Eisen-Dieter und Otti natürlich auch Helmut Schulte, der Trainer mit dem Faible für Bananen, sein aktueller Nachfolger, der arme Seppo, Toni Sailer, der Mann mit dem gewagtesten Bewegungsablauf im Profifußball, und Martino Gatti, der durch seine Matte leider das Spielfeld nicht immer sieht.
Der Buckelpiste am Millerntor selbst wird natürlich genauso ge-
huldigt wie der kruden Obsessionen und Rituale der Fans, und dann ist da noch die Sache mit dem Zauberfrosch. Denn auch im humorfestesten und ironischsten St.- Pauli-Anhänger steckt die Sehnsucht nach dem verzauberten Torschützenkönig, der alles kann und doch die Finanzen nicht belastet. Und wäre Eisen-Dieter nicht drübergelatscht („Gmatsch!“), wäre Helmut Schulte wahrscheinlich immer noch Trainer, Pauli noch in der Bundesliga und überhaupt.
Guido Schröter, „schwarzer Zottelkopf, BWL-Student, Stadtparkfußballer“ (Bild) setzt das alles richtig in Szene. Die Gags sind prima, weil sie genauer Beobachtung entspringen. Die Spötteleien über den Lieblingsclub sind wundervoll gezeichnet und erzählt – so sollten Fußball-Comics sein. Das einzige Problem ist zur Zeit, daß es gar nicht richtig was zu meckern oder zu bejammern gibt. Also ist „Voll Drauf“ eher ein Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft. Denn am Millerntor wird angesichts des nahenden Aufstiegs schon „Aufstiegsangst“ beschworen und vorweg schon mal kommendes Leiden lautstark besungen: „Ein Jahr erste Liga, ein Jahr, ein Jahr!“Christoph Biermann
Guido Schröter: „Voll Drauf“. Eichborn-Verlag, 22,80 Mark
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