Deutschland – Land der Kapitalflucht

Das Geld, das reiche Deutsche im Ausland in Sicherheit bringen, kommt zurück  ■ Aus Berlin Donata Riedel

Tennis-Stars sind besonders anfällig für das legale Delikt: Boris Becker, Björn Borg, Michael Westphal, Sylvia Hanika, Claudia Kohde-Kilsch, Guillermo Vilas – sie alle haben sich mit ihrem ersten Wohnsitz in Monaco als Steuerflüchtlinge geoutet. Der monegassische Jet-set ergänzt sich durch Pop- und andere Profisport-Berühmtheiten: Neureiche zumeist, über die plötzlich der ganz große Geldregen hereingebrochen ist – und das in aller Öffentlichkeit.

Letzterer Lebensumstand macht es unmöglich, das Vermögen, wie in der gesetzteren Geldaristokratie üblich, diskret vor dem Finanzamt zu verstecken. Die Beamten brauchen nur die Lokalzeitung aus der Heimatstadt des Stars zu abonnieren, um ziemlich genau die Einnahmen aus den Tennis- Turnieren schätzen zu können. So ein Umzug bringt natürlich immer gewisse Unbequemlichkeiten mit sich, und der nach Monaco ist darüber hinaus so teuer, daß es für die kleineren unter Westeuropas Großverdienern billiger kommt, brav Steuern zu zahlen. Darum schickt die große Mehrheit der Reichen lieber ihr Geld auf Wanderschaft, als sich selbst zu bewegen. Die Familien Haub und Haniel, Tengelmann und Albrecht, die sich mit ihren Supermarkt- und Discount-Ketten die größten Privatvermögen der Bundesrepublik erwirtschaftet haben, bleiben in dem Lande, das sie nährt. Dort nutzen sie zunächst sämtliche legalen Steuertricks und legen den Rest, falls dann noch die neue Zinsabschlagsteuer droht, vorwiegend in Luxemburg an: Kapital- statt Steuerflucht.

Lange Jahre war Kapitalflucht für die Reichen der Bundesrepublik eine überflüssige Mühe, und das Schweizer Nummernkonto diente höchstens zur risikomindernden Streuung des Anlagevermögens. Bis 1991 die Richter des Bundesverfassungsgerichts ein ebenso klares wie für den Finanzminister peinliches Urteil sprachen: Wer ehrlich war und seine Zinserträge in die Steuererklärung schrieb, hatte davon nur Nachteile, simples Verschweigen war mangels Kontrolle risikolos. Gesetzestreues Verhalten wurde de facto als Dummheit bestraft. Entweder, so die Richter, zahlt niemand mehr Steuern auf Zinserträge, oder Gesetze und Kontrollen werden so gestaltet, daß alle gleich behandelt werden. Das Ergebnis sind der seit 1993 geltende Zinsabschlag (30 Prozent der Zinsen werden automatisch von der Bank an die Staatskasse abgeführt) – und ein Bankenboom in Luxemburg. Statt wie erhofft 24 flossen 1993 nur elf Milliarden Mark aus dieser Steuer in die Staatskasse.

Eigentum an Geldvermögen verpflichtet nicht zur Steuerzahlung. Diese tiefe Überzeugung des oberen Fünftels der Deutschen – denn 80 Prozent der Bevölkerung sind mangels Vermögensmasse eh vom Zinsabschlag befreit – bescherte den Luxemburger Investmentfonds 100 Milliarden Mark Anlagevermögen. Das jedenfalls fiel der Bundesbank für den Zeitraum zwischen Verfassungsgerichtsurteil im Juni 1991 und November 1993 auf. Die jeweilige Hausbank machte es möglich: Die Milliarden wurden bei den Luxemburger Kapitalanlagegesellschaften der deutschen Banken gebunkert. Die Bundesregierung, so konstatierten die Bundesbanker, habe das Ausmaß der Kapitalflucht völlig unterschätzt.

Eine Kapitalflucht in dieser Größenordnung könnte dem Finanzplatz Deutschland und der Stabilität der Mark durchaus Schaden zufügen. Jedoch: Das Geld und noch viel mehr kam sofort zurück – als „ausländische Anlage“, auf die der Zinsabschlag nicht erhoben wird. Denn nirgends ließ sich 1993 wegen der hohen Zinsen Geld so leicht vermehren wie in der Bundesrepublik.

Der große Grenzverkehr des Kapitals blähte so vor allem die Statistik der Bundesbank auf, weil die vielen Nullen jedesmal beim Grenzübertritt erfaßt werden müssen. Wieviel Geld darüber hinaus langfristig in ausländischen Depots gebunkert wird, wissen die Statistiker allerdings nicht. „Neben Luxemburg spielen hier vor allem Österreich und die Schweiz eine Rolle“, schreiben die Bundesbanker in ihrem Monatsbericht vom Janaur 1994 – ohne die Größe dieser Rolle beziffern zu können. Für das „globale Mittelaufkommen am deutschen Kapitalmarkt“ seien diese Verschiebungen aber „im Grunde unerheblich“.

Unerheblich aus deutscher Sicht sind auch die nicht luxemburgischen Steuerparadiese dieser Welt. Ob niederländische Antillen, Kanalinseln, Andorra, Monaco, die Bahamas oder die Cayman-Inseln: 1992 und 1993 wanderte jeweils mehr Geld zur Anlage in Wertpapieren aus den angeblichen Kapitaloasen nach Deutschland als umgekehrt. „Es sind ja nicht nur die Steuern, die einen Finanzplatz attraktiv machen“, gibt ein Sprecher der Bundesbank zu bedenken. Die Höhe der Zinsen und die Aussichten auf Dividenden interessieren die Anleger schließlich, bevor sich überhaupt die Steuerfrage stellt. Wenn also FDP-Politiker die große Kapitalflucht beschwören, sobald das Wort „Vermögenssteuer“ fällt, ist das nicht einmal die halbe Wahrheit, sondern schlichter Klassenkampf – von oben.