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■ Die Fernsehberichterstattung über das Hamburger Turnfest

Wenn das Volk spricht, wird's ungemütlich. Leserbriefe an Sportredaktionen, die dem Fußball in ihrer Berichterstattung allergrößten Wert – im wahrsten Sinne des Wortes – einräumen, belegen, daß eine durchaus selbstbewußt argumentierende Minderheit von Sportkonsumenten mehr mediale Beachtung der Orchideensportarten fordert.

In den vergangenen Tagen wurde demonstriert, wie es aussieht, wenn die Medien sich tatsächlich um ein Ereignis kümmern, das ansonsten gegen den Fußball keine Chance hat, und deshalb marktgerecht auch erst nach dem Abpfiff der letzten Bundesligaaktion zelebriert wurde: Die Rede ist vom Turnfest, von der größten Breitensportveranstaltung der Republik, bei der es sich um eine Mischung aus Kirchentag für Schwitzende und Erweckungswoche für Hüftsteife handelt.

Die Dritten Programme haben die ganze Woche über in Magazinen über diese Veranstaltung berichtet. Donnerstag voriger Woche hatte sich die ARD sogar getraut, einen kritischen Bericht über die Moral der Leibeserziehungen am Beispiel der deutschen Turnbewegung schlechthin zu senden. Zu sehen waren insgesamt – traurige, besser: langweilige Bilder. Man merkte das Bemühen der Reporter, ein wenig Farbe in ihren grauen, fußballosen Alltag zu zaubern. Hier ein paar freundliche Worte über das Turnen an und für sich, dort ein paar gewogene Bemerkungen über die angenehmen Gefühle, die fette Wohlstandsbürger befallen, wenn sie denn endlich anfangen, Sport zu treiben: Niedlichkeiten aus der verunsicherten Welt der Sportredaktionen.

Gelegentlich war zu spüren, daß die Berichterstatter gerne ein paar Lästerlichkeiten ins Mikro gesprochen hätten – allein: Es fehlte der Mut. Geht man nicht auch mit Behinderten nett um, so überhaupt? Also tritt man auch nicht die Turner, deren Tun im Privaten stattfindet und die doch so sehr Öffentlichkeit begehren.

Und wenn es denn wirklich um Sportberichterstattung, also vor allem um die Chronistenpflicht in Sachen Zahlen und Ränge ging, griffen die Kommentatoren wieder zurück auf Floskeln: „Sie war der Publikumsliebling“, hieß es über eine von der Kamera eingefangene Turnerin – und der Zuschauer war irritiert. Denn so anstrengend, so über den Ernst des Lebens hinausgehend hatte man sich das alles nicht vorgestellt.

Schade, daß es die öffentlich- rechtlichen Medien versäumten, auf das einzugehen, worüber im Zusammenhang mit Deutschland und Turnen gesprochen werden muß: über den Drill, über das Soldaten- und KameradInnentum in jedem Sportler und jeder Sportlerin, über Disziplin, über den Willen zum Sieg und die Furcht vor der Niederlage, über Doping und den Terror des Muskulären, und schließlich über den Zeitgeist, der nur noch Fitte als moderne Staatsbürger anerkennt.

Es wäre eine Sendung wert gewesen, einmal die kulturellen Mitnehmsel zu suchen, die das deutsche Sportwesen nach 1945 ungeprüft ins demokratische Westdeutschland übernommen hat. Aber die Reporter waren womöglich zu feige (tritt niemandem auf die Füße!) oder zu müde (die Fußballsaison war lang) oder zu sehr beschäftigt (mit der Fußball-WM im kommenden Monat in den USA): Was die Magazine und kleineren Beiträge in der „Sportschau“ bewiesen, müssen die Freunde von Orchideensportarten jedenfalls erst noch mit ihren vielen Leserbriefen vergessen machen: Turnen als Massenveranstaltung, ein Turnfest sowieso, ist nicht einmal so medienfähig wie das Aquarium, mit dem der Ostdeutsche Rundfunk die nächtliche Sendepause überbrückt. Nicht einmal in der kurzen fußballfreien Zeit zwischen Bayern München und Berti Vogts. Jan Feddersen