Der Scheherazade-Effekt

Erinnerung ist nicht einfach das, was im Kopf von den Ereignissen hängenbleibt. Eine Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain fragte, wie sie zu konstruieren sei  ■ Von Mariam Niroumand

Bevor Wörter wie „Erinnerung“, „Gedenken“, „Gedächtnis“ endgültig in die Reihe der buzzwords einrücken, durch deren Gebrauch der Sprecher sich als Phrasendrescher qualifiziert, schnell noch eine Tagung zum Thema in der Evangelischen Akademie Arnoldshain. Sie hatte Züge eines Wettbewerbs der Meistersinger unter Christen und Juden: Welches ist nun die Religion der Erinnerung, 1. FC Christentum oder 1. FC Judentum?

Nicht zuletzt durch die Kooperation mit dem Fritz-Bauer-Institut konnten Atheisten aber durchaus profitieren: weil einige wirkliche Meistersinger geladen waren, blieb man eng am Thema und dessen Sitz im sogenannten täglichen Leben. Ein Blick auf die momentanen Diskussionen zum Centennaire der Dreyfuß-Affaire in Frankreich zeigte, welche politik- und identitätsstiftende Wirkung die kollektive Erinnerung hat.

Im selbstbewußten Nachklapp zum Historikerstreit hatte Arnoldshain zunächst zwei Referenten eingeladen, die sich zum Gedächtnis des Genozids an den Armeniern äußerten: Fikret Adanir, türkischstämmiger Historiker aus Bochum, zeigte, daß die Erinnerung beider Seiten den durch die Vereinten Nationen definierten Begriff des Völkermords benutzt – mit dem Ergebnis, daß vor allem auf der türkischen Seite mit Vergleichen und Apologien operiert wird und die eigentlichen Ereignisse aus dem Blick verschwänden. Wie „Erinnerung“ an traumatische Ereignisse nachträglich konstruiert wird, zeigen ja die Berichte von Deportierten, die angeben, mit dem Zug vor dem Ortsschild „Auschwitz“ gestanden und nicht gewußt zu haben, wo sie sich befanden – dabei gab es ein solches Schild nicht, und die Züge haben auch nie auf einem Bahnhof gehalten. Mihran Dabag, noch ein Historiker aus Bochum, zeigte, daß die Erinnerung an den Genozid für die Republik Armenien gänzlich anders aussehe als für die Menschen in der westarmenischen Diaspora, die spätestens nach dem russischen Sieg über die Perser 1827 abgetrennt wurde. Während die Republik die Erinnerung in internationalen Verhandlungen, aber auch innenpolitisch instrumentalisiere, finde in der Diaspora keine Hochzeit, kein Fest statt, auf dem nicht über den Verlust und die Biographien der Überlebenden gesprochen werde – eine Situation, die nicht wenig an die von Israel und seiner Diaspora erinnert.

Micha Brumlik ging, den Theoretiker der kollektiven Erinnerung Maurice Halbwachs und Friedrich Nietzsche an der Hand, der Frage nach, woher die Trauer kommt, die einem mitunter aus historischen Texten entgegenschlägt: Kommt sie daher, daß Erinnerung, wie Halbwachs meint, nur über einen gemeinsamen sozialen Affektbezug gelingt? Aber kann ein Kollektiv sich überhaupt erinnern? Ohne kognitive Anstrengung, so schloß Brumlik, geht es nicht; was nicht bewußt erfahren wurde, kann auch nicht verdrängt werden, und so schimmerte zwischen den Zeilen durch, daß die Formel „Erinnerung wachhalten“ oft einfach irreführend ist. Sorgfältig choreographiert, wie die Tagung war, stellte sich mit zunehmender Dauer immer mehr das Gefühl ein, sich langsam, aber sicher zur Vanillefüllung durchzufuttern. Seltsam sanft und mitunter bedrückt fragte sich die Tagung mit dem Analytiker und Historiker Volker Knigge, ob es, bei der Vergegenständlichung von Erinnerung in Monumenten, überhaupt irgendeine Möglichkeit gebe, etwas anderes als die eigene Bedürfnislage mimetisch abzubilden. Knigge hatte im Auftrag des Veranstalters die Vorgeschichte der Errichtung von Yad Vashem untersucht, dem israelischen Nationaldenkmal, das zwischen 1942 und 1955 konzipiert und erbaut wurde. Aus Sitzungsprotokollen, Bauplänen und Nachlässen hatte Knigge die Verbindung zwischen der Vorstellung dessen, was in Europa vor sich ging, und den Anstrengungen der Staatsgründung an den Konzeptionen für das Museum studiert. Es trat eine ganz banale Konkurrenz um das Geld auf: soll man die spärlichen Mittel für die Besiedelung des Jischuv ausgeben oder für die Erinnerung an die aus der damaligen Perspektive völlig vernichtete Diaspora. Der Impuls, eine Gedenkstätte zu errichten, entsprang dem Bedürfnis, den Toten, mit deren Asche die Überlebenden buchstäblich ortlos in Israel herumirrten, eine würdige Grabstätte zu verschaffen, den zweifachen Tod zu verhindern. Daß dann in der letztlichen Ausgestaltung der kämpfende Held aus dem Warschauer Getto als Antwort auf das Opfer und als Vorkämpfer für Israel erscheint, habe ihn „tief enttäuscht“. „Aber was habe ich erwartet: Staaten machen das so.“ Und nicht nur Staaten. Im Gegensatz zu dem aus Amerika angereisten James Young glaubt Knigge nicht an die „Counter-Monuments“ wie die verschwindende Säule von Jochen Geertz in Hamburg. Die sei letztlich auch nur ein „Staatsdenkmal in spe“ und nicht, wie gehofft, ein „Fieberthermometer im Arsch der Deutschen.“ Bestenfalls könnten sie eine Art „Scheherazade-Effekt“ erreichen: Solange ich erzähle, lebe ich. Wenn Monumente gebaut werden, die sich selbst zum Verschwinden bringen, bleibt nur noch der Name des Künstlers übrig, ein neuer „ästhetischer Heroismus“ einer Künstlerfigur kündigt sich an, die von einem archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte zu sprechen versucht.

James Youngs derzeit in New York gezeigte Ausstellung „The Art of Memory“ wird im Herbst in mehreren deutschen Städten zu sehen sein.