Der Berufspalästinenser

Zwei Arafat-Biographien lassen viele Fragen offen / Geschichten auf 1.228 Seiten, einmal für den Nachttisch, einmal für den Schreibtisch  ■ Von Thomas Dreger

„Ein Buch über die PLO wollen Sie schreiben?“ fragte ein Berater des Chefs der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ das britisch-australische Autorenteam Andrew Gowers und Tony Walker. Aber über das Thema gebe es doch schon 56 verschiedene, in unterschiedlichen Sprachen. Das war am 16. Juni 1989, als die beiden renommierten Journalisten und Nahostkenner der britischen Financial Times im PLO-Hauptquartier in Tunis vorstellig wurden, um ihr Projekt mit Jassir Arafat zu diskutieren. Falls die Mitarbeiter von Arafats Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit damals richtig gezählt haben, dann sind mittlerweile weit über 60 Bücher zu dem Thema erhältlich. Zwei davon sind jüngst auf deutsch erschienen: „Arafat – Hinter dem Mythos“, eben von Gowers und Walker, und „Jassir Arafat – Der lange Weg zur Versöhnung“ von ihren US-amerikanischen Kollegen Janet und John Wallach.

Wenn zu den bereits existierenden Werken über die PLO und ihren seit 1969 amtierenden, mittlerweile 64jährigen Vorsitzenden zwei über 500 Seiten starke, mehr als 50 Mark teure Schinken auf den Markt kommen, muß dafür ein besonderer Anlaß existieren, sprich: ein besonderer Kaufanreiz. Zeitraum und Werbung legen den Gedanken nahe, die Publikationen stünden in Zusammenhang mit dem Nahost-Friedensprozeß. Blicke ins jeweilige Impressum belehren aber eines Besseren. Bei beiden Werken handelt es sich um Übersetzungen, deren Originale bereits 1990 (Gowers, Walker) bzw. 1992 (Wallach, Wallach) veröffentlicht wurden. In beiden Fällen also weit vor Bekanntwerden der israelisch-palästinensischen Geheimverhandlungen und der Unterzeichnung des Gaza-Jericho- Abkommens am 13. September vergangenen Jahres. Ersteres sogar vor Beginn der letzten Golfkrise. Beide Bücher sind für den deutschen Markt aktualisiert worden. Im Fall von Wallach und Wallach durch einen Prolog „Der Handschlag von Washington“ (schlechter), bei Gowers und Walker durch angehängte Kapitel und eine Dokumentation der am und vor dem 13. September unterschriebenen Dokumente und Abkommen (besser).

Aus der nachträglichen „Auffrischung“ erklärt sich, daß beide Bücher keine brandaktuellen Analysen zur dieser Tage vollzogenen Umsetzung einer palästinensischen Teilautonomie liefern können. Wohl aber kompilieren sie profundes Wissen und fesselnde Gerüchte über den bisherigen Werdegang jenes Mannes, der – wenn nichts dazwischenkommt – in wenigen Wochen oberster Administrator dieser Autonomiegebiete sein wird.

Trotz unterschiedlichen Aufbaus und verschiedenartiger Sprache ähneln sich beide Bücher. Während Gowers und Walker streng chronologisch vorgehen – den stoppelbärtigen Berufspalästinenser mit der extravagant angelegten schwarzweißen Keffijah also von der Geburt bis nach Washington begleiten –, erzählen Wallach und Wallach Episoden, häufig persönliche Begegnungen mit Arafat, von denen aus sie Themenstränge weiterstricken.

Ihr Buch ist sehr amerikanisch geschrieben und merklich näher dran am Subjekt Arafat. Da werden Gesichtszüge und Reaktionen beschrieben, als hätten die Beobachter dem PLO-Chef die Schweißperlen von der Stirn getupft. Folgt man aber den Fußnoten, merkt man, daß Autor und Autorin häufig nur bei Kollegen abgeschrieben oder sich einen TV- Beitrag besonders genau angesehen haben. Nebenbei erfährt man politisch völlig irrelevante, aber nichtsdestotrotz unterhaltsame Details, z.B., daß der PLO-Chef tagsüber Diät hält, Joghurt und frisches Obst verzehrt, aber des Nachts über süßes arabisches Naschwerk herfällt. Auch niedere Instinkte werden von Wallach und Wallach befriedigt, indem Autor und Autorin Gerüchte über eine Affäre Arafats zu einer verheirateten Libanesin kolportieren: Der Gatte der Dame sei auf einer Beiruter Baustelle von einem Zementsack erschlagen worden, heißt es, eine Untersuchung des Todesfalles habe nie stattgefunden. Später sei die Angebetete – vermutlich als Spionin im libanesischen Bürgerkrieg aktiv – erschossen worden. Bei Gowers und Walker ist dagegen nur zu erfahren, der PLO-Chef sei in eine Libanesin verliebt gewesen, die irgendwie ums Leben gekommen sei.

Für den Nachttisch ist das Buch von Wallach und Wallach somit erheblich besser zu gebrauchen als das very british abgefaßte von Gowers und Walker. Letzteres eignet sich aufgrund seiner chronologischen Strukturierung dafür eher als in unmittelbarer Nähe des Schreibtisches positioniertes Nachschlagewerk.

Beide Bücher enthalten – für deutschsprachige Fachliteratur ungewöhnlich – Schlagwortverzeichnis, Glossar und Appendix. Die VerlegerInnen von Gowers und Walker übertreiben diesen Luxus ein wenig, zumal er den Ladenpreis in die Höhe treibt. Peinlich wird der Aufwand, wenn neben einer deutschsprachigen Graphik über die Organisationsstruktur der PLO eine (völlig überflüssige) arabische Variante spiegelverkehrt gedruckt wird.

Die politische Analyse bleibt in beiden Büchern vage. Zwar hegen alle vier AutorInnen deutliche Sympathien für die PalästinenserInnen – Wallach und Wallach legen dabei Wert auf ihren besonderen Blickwinkel als US-amerikanische Juden –, jedoch verharren sie alle im politischen Mainstream. In beiden Bücher tauchen Begriffe wie „Radikale“, „Fundamentalisten“ oder „Gemäßigte“ auf, ohne hinterfragt zu werden. Daß die Realität komplexer ist, läßt sich aus den Kapiteln herauslesen, in denen Arafats Politaktivitäten als Student in Ägypten beschrieben werden: Er wurde damals von den Muslimbrüdern unterstützt und war möglicherweise sogar Mitglied dieser Keimzelle der modernen arabischen Islamisten.

Anfang der neunziger Jahre, in der Spätphase der Intifada, bemerkte er, daß die AnhängerInnen der islamistischen Hamas-Bewegung mittlerweile jene Attitüden pflegten, auf die Anhänger von Arafats Fatah in den sechziger Jahren selbst stolz waren. Bezeichnenderweise entschloß sich der PLO- Chef spätestens im Frühjahr 1993 zu einer Allianz mit der israelischen Regierung eben gegen diese palästinensischen Kräfte.

Auch wenn beide Bücher aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte wenig über die zukünftige Entwicklung der seit wenigen Tagen teilautonomen Gebiete im Gaza- Streifen und in Jericho aussagen können, so lassen sie doch vieles über die Rolle Arafats darin erahnen – wenig Gutes freilich. Die Schilderungen, wie dieser die PLO und ihre Gremien regiert und wie er beispielsweise im Libanon in den siebziger Jahren einen Staat im Staat installierte, geben Einblick in eine zutiefst autokratische Gesinnung. Sollte sie einmal aus pragmatischen Erfordernissen entstanden sein, so ist sie längst in Fleisch und Blut des rundlichen Befreiungsfunktionärs übergegangen. Eine der schwierigsten Herausforderungen, denen die palästinensische Gesellschaft in den besetzten Gebieten nun gegenübersteht, ist, diese Symbolgestalt des eigenen Befreiungskampfes in die neue Autonomie zu integrieren und sie gleichzeitig in ihren bisherigen Befugnissen zu beschneiden. Thomas Dreger

Andrew Gowers, Tony Walker: „Arafat – Hinter dem Mythos“. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994, 670 Seiten, 58 DM

Janet und John Wallach: „Jassir Arafat – Der lange Weg zur Versöhnung“. Heyne Verlag, München 1994, 558 Seiten, 56 DM