Überm Abgrund des Verlangens

■ „Recherchen im Reich der Sinne“-Lesung im Schauspielhaus

Was denken Sie über Onanie? Welche Stellung bevorzugen Sie eigentlich? Was halten Sie im übrigen von Geschlechtsverkehr in der Kirche? Vielleicht mit Glockengeläut... Schonungslos offen und delikat waren die Fragen und offenherzigen Antworten der Surrealisten, die sich im Paris der zwanziger und dreißiger Jahre zu Gesprächen zum Thema Sexualität trafen: Unter der Führung vom Cheftheoretiker und Dichter André Breton ergründeten 29 Maler und Schriftsteller des Surrealismus in insgesamt zwölf Gesprächsrunden zwischen 1928 und 1932 eigene Höhen, Tiefen und flammende Abgründe körperlichen Verlangens. In ihrer programmatischen Zeitschrift „La Révolution surréaliste“ abgedruckt war das damals ein handfester Skandal.

Acht Ensemblemitglieder des Schauspielhauses haben sich der damaligen „rasiermesserscharfen“ Unterredungen, zu denen sich unter anderen Prévert, Man Ray, Tanguy und Aragon gesellten, angenommen und auf die Bühne gebracht. Initiator für die Aufführung in der Nachtkantine des Schauspielhauses war Burghart Klaussner, der, „begeistert vom Stoff“, seine schauspielenden Kollegen erfolgreich anspitzte, so etwas einmal komprimiert zu inszenieren.

Die Gruppe der Surrealisten, die aus dem Geist des Dadaismus wuchs und sich später davon emanzipierte, protestierte in den 20er Jahren vehement gegen den „ganzen Quatsch der bestehenden Weltordnung“ und wollten mit ihren Manifesten Mensch und Kultur radikal erneuern. Dabei betrachteten Bréton und seine surrealistischen Mitstreiter die Sexualität als entscheidendes treibendes Ferment für eine radikale Veränderung in gesellschaftlicher wie in persönlicher Hinsicht. Um die alten einengenden Bande von Vaterland, Familie und Religion bedingungslos zerschlagen zu können, galt es, das „Unbewußte fließen“ zu lassen, wider alle moralischen und ästhetischen Konventionen.

Das Unkontollierte, der Traum, die Assoziationen und die Imaginationen sollten frei von gesellschaftlichen Normen gedacht und formuliert werden. Liebe und sexuelles Begehren galt es neu zu entdecken, und zwar ohne irgendwelche pseudowissenschaftlichen Verkleisterungen, sondern direkt, eruptiv und ohne falsche Scham - von welcher während der Gesprächsrunden fürwahr nicht die Rede war. Allerdings befreit die revolutionär anmutende Ohnmacht auch die Surrealisten nicht davon, männliche Borniertheit mit Leidenschaft zu verwechseln.

Dierk Jensen