"Vielleicht ende ich als Bühnenarbeiter"

■ Halbwegs von draußen beobachten - ein Gespräch mit dem Schriftsteller George Tabori anläßlich seines 80. Geburtstags

Wien. Café Schopenhauer. Um die Ecke wohnt George Tabori, er müßte jeden Moment kommen. Nach einigem Warten ist allerdings klar, daß er den Termin vergessen hat. Einige Wochen später klappt es. Hamburg. Hotel Reichshof. Tabori, der gerade am Thalia Theater inszeniert und am 24. Mai seinen 80. Geburtstag feiert, ist vieles in einem: Theater- und Romanautor, Regisseur und Schauspieler, sanftmütiger Provokateur und abgeklärter Ironiker. Geboren in Budapest und während des 2. Weltkrieges im Nachrichtendienst der britischen Armee, geht er nach dem Krieg nach Hollywood, um unter anderem für Hitchcock und Joseph Losey Drehbücher zu schreiben. Zurück in Europa inszeniert Tabori an fast allen wichtigen Bühnen im deutschsprachigen Raum, und feiert vor allem mit „Mein Kampf“ und „Goldberg- Variationen“ Triumphe als Autor und Regisseur.

taz: Vor zehn Jahren haben Sie „Warten auf Godot“ inszeniert und wollten sich in Paris mit Samuel Beckett treffen. Sie warteten vergeblich. Wie war es, als Sie ihn später tatsächlich trafen?

George Tabori: Es war eine sehr schöne Begegnung. Er war noch sehr lebendig und aktiv und ich dachte, mein Gott ist er jung. Sein Gang war der eines jungen Ballettänzers, das Beste an ihm war allerdings die Stimme. Sie hatte diesen irischen Akzent, der sehr freundlich ist. Wenn er sprach, war es, als würde er singen. Am Ende unserer Unterhaltung hat er meine Hand genommen. Seine Hände waren sehr stark und warm, obwohl er Arthritis hatte. Diesen Handdruck werde ich nie vergessen. Das ist wohl sehr undeutsch formuliert? Handdruck.

Ist da eine Wahlverwandtschaft zwischen Beckett und Ihnen?

Das ist eine sehr schmeichelhafte Frage. Beckett war ein großer Meister und einmalig. Eine Parallelität besteht vielleicht darin, daß er sich durch „Warten auf Godot“ selbst kurierte und das aus sich herausbrachte, was ihn störte. Danach fing er an zu inszenieren und wurde menschenfreundlicher. Er hat seinen „Godot“ in drei bis vier Wochen geschrieben. Ich habe das Manuskript gesehen, es gibt kaum eine Korrektur darin.

Wo liegt die Parallele? Gibt es auch bei Ihnen ein Stück, mit dem Sie sich zur Menschenfreundlichkeit durchgeschrieben haben?

Menschenfreundlich war ich eigentlich immer. Beckett dagegen hat als junger Mann sehr gelitten, auch an seinem Werk, eine Therapie gemacht und erst spät mit „Godot“ den Durchbruch geschafft. Die Parallele besteht lediglich darin, daß für mich, als ich Ende der 60er Jahre mit meinem Stück „Kannibalen“ in Deutschland ankam, eine neue Phase begann. Ich war glücklich und habe mich hier sehr wohl gefühlt.

Haben Sie mit Beckett darüber gesprochen, daß Sie sich in Ihrer „Godot“-Inszenierung nicht an seine strengen formalen Vorgaben halten würden?

Wir haben darüber gesprochen. So weit ich mich erinnere, hatte er nichts dagegen einzuwenden. Was dann tatsächlich daraus wurde, hat allerdings sehr viel mit der Probensituation zu tun. Wir hatten Mühe mit dem von Beckett vorgegebenen Baum, bis ich eines Tages zu sagen wagte, warum nehmen wir stattdessen nicht einen Tisch und lassen diesen scheiß Baum weg. Das ist nur eine Improvisation, habe ich schnell hinzugefügt, aber Holtzmann [Peter Lühr und Thomas Holtzmann spielten Wladimir und Estragon, d. Red.] kapierte sofort, daß es so bleiben sollte. Ich hatte Glück, daß ich meinem Impuls folgte und wie immer herumfummelte, bis ich meinen Weg gefunden hatte. Manchmal gelingt es, mehr kann man nicht erwarten.

An welchem Stück fummeln Sie zur Zeit herum?

Hier am Thalia Theater arbeiten wir seit zwei Wochen an Enzensbergers Material, das er „Delirium“ nennt. Mein Problem ist, daß die Schauspieler so toll sind und von Anfang an so verrückt spielen, daß ein wunderbares Chaos entstanden ist, das ich wieder ordnen muß. Enzensberger hat mit seiner Collage von 36 Gedichten etwas geschrieben, das für mich sehr schwierig ist. Im Gegensatz zum „Untergang der Titanic“ [Tabori brachte Enzensbergers Stück 1980 zur Uraufführung, d. Red.] haben die einzelnen Gedichte sehr wenig miteinander zu tun. Dazu gibt er tolle Regieanweisungen, die ich manchmal nachempfinde und manchmal ignoriere. Enzensberger meint, das Stück könne in einer Irrenanstalt spielen, was mich sehr reizt. Ich kenne Irrenanstalten.

Sie meinten vorhin, daß Sie sich in Deutschland wohl fühlen. Gilt das immer noch, obwohl doch eine Synagoge angezündet wurde?

Das hat mich nicht überrascht, aber da ich im Grunde ein ewiger Optimist bin, hoffe ich, daß das vorübergeht. Ich finde es nicht richtig, die, die so etwas machen, Neonazis zu nennen, da sie sich sehr von den Nazis unterscheiden, die ich in meiner Jugend erlebte. Das heißt nicht, daß sie ungefährlich sind. Ich glaube, dieses Jahr ist entscheidend, und nach dem Wahljahr wird eine neue Situation eintreten. So, wie es vor dem Fall der Mauer war, wird es allerdings nicht mehr sein. Geschichte wiederholt sich nicht, ich glaube, es werden unerwartete Dinge geschehen, und offen gesagt – ich sage jetzt etwas Gefährliches – flüchte ich mich im Moment etwas in mein Alter. Nicht daß ich stolz darauf wäre, denn solch eine Haltung ist selbstsüchtig. Aber ich habe zwei Weltkriege und Revolutionen erlebt und bin immer glücklich entkommen. Heute nehme ich die Privilegien des Alters in Anspruch und betrachte das Geschehen von einem anderen Standpunkt. Da spielen Kinder und es ist bedrohlich, wie sie spielen, während in Bonn immer noch ein Optimismus ausgestrahlt wird, der etwas mit Selbsthypnose zu tun hat. Ich werde im Mai 80 und sage mir, was kann mir schon passieren.

Kürzlich haben Sie Ihr Stück „Die 25. Stunde“ am Wiener Akademietheater inszeniert. In der zentralen Szene kommt es zum Psychodrama des Helden und man hat den Eindruck, sie hätten gegen ihre Todesangst angeschrieben. Hat es mit dieser Szene zu tun, daß Sie so lange warteten, das Stück selbst zu inszenieren?

Warum ich es fast dreißig Jahre nicht selbst inszeniert habe, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich nicht dazu kam. Haben Sie das Stück in der Premiere gesehen? Premieren sind eine furchtbare Angelegenheit. Die Schauspieler stehen oft unter einer unproduktiven Spannung, was vor allem im deutschsprachigen Theater unsinnig ist, da hier eigentlich nicht der Publikumserfolg über das Schicksal einer Inszenierung entscheidet – ich muß mich korrigieren. Das war bisher so, im Moment ändert sich das.

Meinen Sie den zunehmenden finanziellen Druck, unter dem die Theater stehen?

Ja. Seit der Wiedervereinigung ist für die Theater eine Atmosphäre wie in England oder Amerika entstanden. Wenn zum Beispiel eine Inszenierung in New York den drei oder vier Kritikern nicht gefällt, die es dort noch gibt, ist sie nach einigen Tagen weg vom Fenster. In Deutschland war das bisher nicht so. Wenn es in diese Richtung geht und das generöse Klima verschwindet, das in den letzten Jahrzehnten herrschte, wird es ein trauriges Land werden. Das Theater ist das Beste, was Deutschland zu bieten hat, auch wenn es nicht immer so toll ist, wie man das gerne hätte. Nur, das ist unvermeidlich. Es kann nicht jeden Tag einen „Peer Gynt“ wie den von Peter Stein geben. Es muß Mittelmäßigkeit geben, wie auch ich sie produziere, damit zwei oder drei außergewöhnliche Inszenierungen herausragen können. Mehr soll und kann es nicht sein. Ich beobachte das deutschsprachige Theater seit den 60er Jahren mit großer Freude, daß sich da im Moment etwas Entscheidendes verändert, sieht man meiner Ansicht nach auch am Feuilleton. Das Theater rangiert dort bereits an dritter oder vierter Stelle.

Können Sie sich erklären, warum, abgesehen von den finanziellen Problemen der Kommunen, sich in kurzer Zeit eine vehemente Stimmung gegen die Theater entwickeln konnte?

Merkwürdigerweise wird diese

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Stimmung ja von Kulturpolitikern gefördert, die das Theater überhaupt erst ermöglicht haben. Ich glaube, die haben jetzt genug davon, daß sie das Theater jahrelang unterstützten, aber nicht viel zu sagen hatten, außer daß sie alle fünf Jahre den Intendanten auswechseln konnten. Jetzt schlagen sie zurück und spielen ihre Macht aus.

Ich habe auch den Eindruck, daß in den Theatern die Stunde der Leisetreter geschlagen hat. Müßten die Theater nicht wesentlich offensiver reagieren?

Ich möchte keine Ratschläge geben, aber in den Theatern wird tatsächlich stumm gelitten. Ich bin ein Außenseiter und kann vielleicht offener aussprechen, daß die Gefahr groß ist. Das Schiller Theater war nur ein Signal, es werden noch mehr Bühnen geschlossen werden, während viele in den Theatern weitermachen, als sei nichts passiert. Vielleicht sieht man die Situation dort aber auch nicht so apokalyptisch und vielleicht hat meine Einschätzung ja auch nur etwas mit meinem Alter zu tun. Ich befürchte, daß die schlimmste Zensur, nämlich die ökonomische, auf das deutsche Theater zukommt, und daß die Theaterleute wie in England und Amerika nur noch spekulieren werden, ob das, was sie machen, gut ankommt. Was das für Konsequenzen haben kann, sieht man an meinen „Goldberg-Variationen“. Mit 30 bis 40 Aufführungen war das für die Verhältnisse im deutschsprachigen Raum ein ziemlich großer Erfolg, in England oder Amerika dagegen wäre das ein Flop. Gottseidank werde ich nicht mehr leben, wenn auch in den deutschen Theatern der Kampf um die Publikums- und Pressegunst toben wird.

Warum fühlen Sie sich als Außenseiter?

Das ist schwer zu erklären. Ich fühle mich als Außenseiter, weil ich von Amerika gekommen bin und mich hier als Gast und als Fremder fühle. Das ist keine Klage, weil ich mich überall als Fremder fühle und meine Fremdheit schon lange, schon seit dem Kriege, akzeptiert habe. Ich erkannte diese Rolle spät in meinem Leben und habe mich mit ihr inzwischen mehr als befreundet. Es ist richtig, daß da einer halbwegs draußen sitzt und beobachtet.

In ihrem Roman „Ein guter Mord“ geht es um einen Mann, den man auch als Fremden bezeichnen könnte. Er lebt in Kairo, scheint dort nicht richtig hinzugehören und bringt seine Frau um. Auch in ihrem gerade erschienenen Roman „Tod in Port Aarif“ heißt es vom männlichen Protagonisten, er sei nur ein Schatten, der kommt und verschwindet. Gibt es da eine fließende Grenze zwischen fremd und unbeteiligt sein?

Es kann sein, daß die Grenze fließend ist, aber das ist nicht zwangsläufig so. Ich habe immer empfunden, daß ich teilnehme, seit meiner Jugend in Berlin, London und Amerika. Als ich Ende der 60er Jahre und im reifen Alter wieder zurück nach Deutschland kam, habe ich meine Familie in New York verlassen, was sehr weh getan hat. In Deutschland fühlte ich mich als Fremder, die Menschen akzeptierten und respektierten das aber immer, und ich arbeitete mit sehr viel Freude. Es ist allerdings noch heute so, daß ich zuerst alles in Englisch schreibe, dann wird es übersetzt. Und ich stottere immer noch und habe Probleme mit der Aussprache, wenn ich deutsch spreche. Ich muß allerdings noch einmal klar machen, daß ich mich wohl fühle als Fremder, und daß ich mich in Budapest ebenso fremd fühle wie in Wien oder Hamburg, eher noch fremder, obwohl ich dort geboren bin und die wichtigste Zeit meiner Jugend verbrachte. Während des Krieges, in Jerusalem, Kairo, London und auch noch in Amerika mußte ich erst lernen, daß ich überall fremd sein würde. Heute habe ich akzeptiert, daß ich nirgendwo zu Hause bin und überall zu Hause sein kann. Das ist nicht die schlimmste Lage für einen Schriftsteller.

Haben Sie Angst, dieses Gefühl des Fremdseins könnte sich so verstärken, daß Sie sich völlig zurückziehen?

Was heißt zurückziehen? Ich lebe schon seit längerer Zeit so, daß ich von zu Hause ins Theater und wieder zurückgehe. Heute abend soll ich zum Beispiel in ein Kino gehen und habe keine Lust.

Ich habe den Eindruck, daß Ihr bevorstehender 80. Geburtstag eine Zäsur für Sie darstellt. Gilt das auch für Wien? Werden Sie weiterhin dort wohnen?

Ich weiß nicht, vielleicht ziehe ich auch nach Hamburg oder Berlin. In meinem Leben gab es immer Abschnitte von zehn bis fünfzehn Jahren, an deren Ende sich eine Änderung anbahnte. Was jetzt an Neuem auf mich zukommt, will ich eigentlich gar nicht wissen. Ich habe darüber auch schon mit meiner Frau [Burg-Schauspielerin Ursula Höpfner, d. Red.] gesprochen. Wir leben jetzt fast zehn Jahre in Wien und da kann es schon sein, daß wir irgendwo anders hingehen.

Haben solche Veränderungen auch etwas mit Menschen, zum Beispiel mit dem Weggang von Gerd Voss aus Wien zu tun?

Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht wäre ich, wenn er in Wien geblieben wäre, jetzt nicht hier in Hamburg. Das kann sein. Ich habe ihn persönlich sehr gern, wir haben sehr gut gearbeitet und ich hoffe wir werden noch einmal zusammenarbeiten.

Und wie sieht es mit ihrer Überlegung aus, sich vom Theater zurückzuziehen? Können Sie sich das tatsächlich vorstellen?

Ich habe zwar davon gesprochen, aber das hatte mehr mit Koketterie zu tun. Wie es weitergeht weiß ich nicht, denn ich habe nie in meinem Leben geplant. Dieses Jahr inszeniere ich noch Enzensbergers „Delirium“ und im Herbst Schönbergs Oper „Moses und Aron“ in Leipzig. Vielleicht höre ich nächstes Jahr tatsächlich allmählich auf. Ich bin im Moment auf der Suche. Was da kommt, weiß ich nicht, sonst wäre die Suche nicht echt. Vielleicht schreibe ich nur noch, vielleicht wird sich aber auch meine Utopie erfüllen und ich ende als Bühnenarbeiter auf einer leeren Bühne. Um Mitternacht, wenn sonst niemand mehr im Theater ist.

Interview: Jürgen Berger