■ Russischer Besuch beim Nato-Treffen in Brüssel
: Endlich Priorität für die KSZE!

Viereinhalb Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer haben die Nato-Staaten noch immer keine konzeptionelle Vorstellung über den Platz Rußlands im Europäischen Haus. Deswegen wird die Diskussion, die Verteidigungsminister Gratschow heute in Brüssel mit seinen 16 Amtskollegen führt, beide Seiten nicht zufriedenstellen. Das Angebot einer lediglich mit den anderen osteuropäischen Staaten gleichberechtigten Teilnahme am Nato-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ kann die Regierung Jelzin schon aus innenpolitischen Gründen nicht akzeptieren. Zumal dieses Programm – wie schon der „Kooperationsrat“ der Allianz – eine Spielwiese ist ohne Kompetenzen oder verläßliche Sicherheitsgarantien für die Osteuropäer. Die Nato wiederum kann sich nicht leisten, Rußland einen Sonderstatus einzuräumen, gar mit vereinbarten Vorrechten vor den mittelosteuropäischen und baltischen Staaten.

Das würde die in Brüssel höchst ungeliebte Forderung dieser Staaten nach rascher Vollmitgliedschaft in der Nato noch verstärken. Einziger Ausweg aus diesem Dilemma wäre die entschlossene Weiterentwicklung der KSZE zur handlungsfähigen kollektiven Sicherheitsinstitution für Europa zwischen Atlantik und Ural mit gleichen Rechten und Pflichten aller Teilnehmerstaaten. Diese Erkenntnis scheint auch in der Bundesregierung spätestens seit dem jüngsten Jelzin/Gratschow-Besuch in Bonn zu dämmern.

Die Vorschläge zur Stärkung der KSZE, die Bundesaußenminister Kinkel und sein niederländischer Amtskollege Kooijmans wenige Tage nach Jelzins vorlegten, gehen jedenfalls in die richtige Richtung. Ein Verfahren, wonach die KSZE in Streitfällen künftig zwar im Konsens, aber notfalls auch ohne die Stimme der Konfliktpartei(en) den UNO-Sicherheitsrat anruft und sich zugleich vorab zur Umsetzung der Beschlüsse des Rates verpflichtet, ist eine notwendige Konkretisierung der im Sommer 1993 getroffenen Grundsatzentscheidung, die KSZE zur regionalen Institution im Sinne der UNO-Charta zu machen.

Die deutsch-niederländische Absicht, die KSZE stärker als bisher an friedenerhaltenden Maßnahmen im GUS-Bereich zu beteiligen, ist ein wichtiges Signal an die Adresse Moskaus, das allerdings zu kurz greift. Wie UNO-Generalsekretär Butros Ghali kürzlich betonte, soll ein UNO-Mandat für friedenerhaltende Maßnahmen in GUS-Ländern nur für internationale Truppen, nicht aber für rein russische Streitkräfte erteilt werden. Zur Bereitstellung von Soldaten für diese Aufgaben wären aus einer Reihe politischer, logistischer oder finanzieller Gründe die KSZE-Länder noch am ehesten in der Lage. Voraussetzung hierfür aber wäre ein Verständnis von Rolle und Aufgabe der KSZE, das über die Vorschläge aus Bonn und Den Haag hinausgeht. Die KSZE als einzige gesamteuropäische Institution muß endlich nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch in der praktischen Politik – bei der Zuteilung von Ressourcen, Kompetenzen und Instrumenten – eindeutige Priorität vor der WEU, der Nato, deren „Kooperationsrat“ bzw. dem Nato-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ erhalten. Sie muß zum ersten Instrument bei der präventiven Verhinderung, der Bearbeitung und Lösung von Konflikten in Europa werden. Das inzwischen schon unübersehbare Geflecht sich zunehmend einander blockierender statt „einander ergänzender“ (Genscher) Institutionen und Strukturen kann nicht verdecken, daß in Europa weiterhin „Zonen ungleicher Sicherheit“ bestehen. Ohne eine gesamteuropäische, kollektive Sicherheitsinstitution mit gleichen Teilnahmerechten und -pflichten aller Mitglieder wird es bei dieser Ungleichheit bleiben. Die aber trägt zu nationalistischen Strömungen in Rußland und anderswo bei. Solange Ungleichheit besteht, wird auch Moskau weiterhin Sonderrechte beanspruchen, die ihrerseits Mißtrauen bei seinen osteuropäischen Nachbarn wie auch in Westeuropa schüren werden. Andreas Zumach