Der Tod eines Verfassungsschützers

Die Umstände, unter denen der Kölner Beamte Becker in Tripolis verstarb, liegen weitgehend im dunkeln / Wollte sich der Beamte aus Frust von den Libyern anwerben lassen?  ■ Von David Crawford

Berlin (taz) – Der mysteriöse Tod von Silvan Becker ist nach wie vor nicht geklärt. Mit dem Tod des Referatsleiters im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) am 9. April in einem Krankenhaus südöstlich von Tripolis haben die Operationen der Verfassungsschützer gegen Libyen allerdings einen schweren Rückschlag erlitten.

Die Pressestelle des Bundesamts für Verfassungsschutz hat versucht, den Vorfall herunterzuspielen, indem sie betonte, Becker sei nicht mehr Referatsleiter in der Unterabteilung gewesen, die sich mit arabischen Extremisten befaßt. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Becker war beim Verfassungsschutz unglücklich. Obwohl seine Kompetenz außer Frage stand, wurde er mehrere Male bei Beförderungen übergangen. Er blieb von 1977 bis 1990 Referatsleiter in der Abteilung 6 (Ausländerextremismus), bis er die Schmach erleben mußte, vom Referat „Arabische Extremisten“ zu einem unbedeutenderen versetzt zu werden, wo er tamilische Extremisten überwachte.

Das wirft die Frage auf, was Becker in Libyen eigentlich zu suchen hatte. Beamte des Verfassungsschutzes dürfen nicht nach Libyen reisen, und das Bundesamt für Verfassungsschutz behauptet, es habe von Beckers Reiseplänen nach Libyen nichts gewußt.

Laut einem Bericht des Verfassungsschutzes für die Parlamentarische Kontrollkommission im deutschen Bundestag beantragte Becker am 31. Januar beim Bundesamt Urlaub für eine Ägyptenreise vom 4. März bis zum 6. April 1994. Etwa um die gleiche Zeit beantragten er und seine Frau beim libyschen Volksbüro in Bonn Touristenvisa für Libyen, unter Verwendung ihrer richtigen Namen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz gibt an, Frau Becker habe das Volksbüro persönlich am 18. Februar aufgesucht, weil die Libyer den Empfang der Anträge nicht bestätigt hätten. Sie erhielt dann ohne Schwierigkeiten die Visa zum Besuch zweier archäologischer Fundstätten in Südlibyen bei Waw el Namos und Waw el Kabir. Im Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz heißt es, die Beckers hätten Deutschland am 3. März verlassen und am 5. März in Genua eine Fähre nach Tunis genommen. Die Einreisevisa nach Libyen wurden am 8. März 1994 abgestempelt.

Beckers Identität hätte den libyschen Sicherheitsdiensten bekannt sein können, insbesondere wegen der bedeutenden Rolle, die Becker bei der Untersuchung angeblicher libyscher Terrorakte in Deutschland spielte. Becker leitete die Untersuchung des Bombenanschlags auf die Diskothek „La Belle“ 1985 in Berlin und des Bombenanschlags im Jahre 1988 auf den Pan- Am-Flug 103 über Lockerbie, Schottland. Wegen letzterer Untersuchung ist Becker laut unbestätigten Angaben vielleicht den libyschen Sicherheitsorganen aufgefallen, als er 1989 nach Zypern und Malta reiste, um die Zuladung eines Koffers in ein Flugzeug auf dem Flughafen La Valetta zu untersuchen, der in Frankfurt/Main auf Flug 103 umgeladen wurde. Die Pressestelle des BfV kann nicht bestätigen, daß Becker eine solche Reise unternahm, und eine derartige Untersuchung wäre wahrscheinlich eher vom Bundeskriminalamt durchgeführt worden. Tatsächlich wäre es wohl in Zypern für jeden schwierig gewesen, die wahre Identität eines mit Tarnpapieren reisenden Beamten des Verfassungsschutzes aufzudecken.

Der Bericht schließt, das Paar sei am 9. März von Banditen angegriffen und am 10. März in ein Krankenhaus in der Nähe von Sirte eingeliefert worden. Frau Becker soll dem Bericht zufolge am 28. März in diesem Krankenhaus gestorben sein. Silvan Becker jedoch wurde in das Militärkrankenhaus Bengashi in der Nähe von Tripolis überführt. Dort wurde er „zufällig“ am 29. März von einem deutschen Konsulatsbeamten entdeckt, der dem deutschen Konsulat in Tripolis zugeteilt war. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gibt an, der deutsche Beamte habe in dem Militärkrankenhaus einen anderen Patienten besucht, als er von Beckers Anwesenheit erfuhr. Laut BfV sind Machenschaften des libyschen Geheimdienstes auszuschließen, weil Becker nicht bewacht worden sei. Becker befand sich jedoch im Koma und erlangte vor seinem Tod am 9. April nicht mehr das Bewußtsein. Das Auswärtige Amt wurde offiziell am 2. April von der libyschen Regierung über den Zustand der Eheleute Becker informiert. Der Kölner Staatsanwalt untersucht den Fall aufgrund einer „Mordanzeige gegen Unbekannt“, die das BfV Anfang Mai stellte.

Der „Fall Becker“ wurde inzwischen zum Gegenstand wildester Spekulationen im Nahen Osten, und es häufen sich die Geschichten darüber, wo Becker gesehen worden sei. Nach diplomatischen Quellen in Ägypten besuchte Becker am 4. März Kairo, zusammen mit seiner Frau und mit Tarnpapieren. Becker soll weiterhin seinen Aufenthalt in Kairo am 20. März beendet haben und nach Alexandria gereist sein, um dort mit seiner Frau ein paar Tage Urlaub zu machen. Dort verschwand das Paar. Laut dieser Version hielt sich Becker in Ägypten auf, um Veränderungen in den Militär- und Geheimdiensten der Libyer zu diskutieren, insbesondere den Umzug einiger libyscher Kommandooperationen aus dem Hauptquartier in Sirte. Diskutiert wurde auch der Erfolg des Embargos gegen Libyen und die Giftgasfabrik in Rabta.

Gerhard Lange, Pressesprecher des Bundesamtes für Verfassungsschutz, schließt jede Möglichkeit aus, daß die Beckers in Ägypten waren. Die Verfassungsschutzbehörde habe wenig Grund, die offiziellen Berichte von Untersuchungsbeamten der libyschen Regierung anzuzweifeln, wonach das Paar per Landrover in Libyen unterwegs war und von Dieben angegriffen wurde.

Für den Verfassungsschutz wird der Fall Becker dennoch eine umfangreiche Schadenseinschätzung erzwingen. Becker wußte, daß jeder Verfassungsschutzbeamte sich einem Erpressungsrisiko aussetzte, wenn er in Libyen reiste. Die Untersuchung wird überprüfen, ob er bewußt oder unbewußt hoffte, vom libyschen Nachrichtendienst angeworben zu werden – oder tatsächlich angeworben wurde. Für Beckers Entscheidung, in Libyen Urlaub zu machen, spielte die Unzufriedenheit mit seiner Arbeit zweifellos eine Rolle.