Regen gibt den Ärmsten der Armen den Rest

■ Zwar sind Medikamente und Lebensmittel ausgenommen, dennoch dürften im kargen Nordwesten die Sanktionen die Probleme bei der Verteilung erheblich verschärfen

Der 18 Monate alte Bobouson Myrtil ist etwa 60 Zentimeter groß, wiegt knapp zwölf Kilo, hat außerordentlich große, dunkle Augen – und liegt im Sterben. Schleim versperrt ihm jede Nacht die Atemwege, so daß er zu ersticken droht. Dazu kommt der nagende Hunger. Die 35jährige Emilia Myrtil weiß nicht, wie sie ihn und seine drei ebenfalls kränkelnden Geschwister noch retten soll. „Sie werden alle sterben“, sagt die Mutter mit resignierter, kraftloser Stimme.

Der Nordwesten Haitis ist der Ort, um die Auswirkungen der bisherigen UN-Sanktionen zu beobachten. Und er ist die richtige Gegend, um eine Ahnung davon zu bekommen, welche Folgen die Verschärfung des Embargos zeitigen wird. In der Region leben etwa 600.000 Menschen. Unter den unzähligen Armen Haitis sind sie die Ärmsten.

Bombardopolis, die einzige Stadt der Region, ist seit fast fünf Jahren ohne Strom. Damals gab ein von einer deutschen Hilfsorganisation gestifteter Generator seinen Geist auf. Letzte Woche setzten Regenschauer ein – die ersten seit sechs Jahren. Eigentlich sollte das Wasser für den ausgedörrten Boden einen Segen bedeuten. „Ja, endlich gibt es Regen“, sagt ein Mitarbeiter einer privaten französischen Hilfsorganisation, „aber jetzt sind die Straßen überflutet, LKWs kommen nicht mehr durch.“ Tatsächlich ist Bombardopolis seit Beginn der Regenfälle von der Hauptstadt Port-au-Prince aus nur noch mit Geländewagen zu erreichen. Die öffentlichen Garküchen – für viele BewohnerInnen die einzige Ernährungsmöglichkeit – sind von der Versorgung mit Lebensmitteln abgeschnitten. Und vor lauter Regen finden die Köche kein trockenes Holz, um Feuer zu machen.

Noch aussichtsloser ist die Lage jener, die keine der öffentlichen Versorgungsstellen erreichen können. Rund die Hälfte der BewohnerInnen des Nordwestens waren bisher von sogenannter „Trockenversorgung“ abhängig – entweder weil sie in extrem abgelegenen Gebieten leben oder weil sie zu alt oder krank sind, um die Garküchen selbst zu erreichen. Per LKW wurden sie mit Rationen aus Mehl und getrockneten Bohnen versorgt. Doch seitdem die meisten Wege für Fahrzeuge unpassierbar sind, müssen diese Menschen sehen, wie sie überleben.

Bombardopolis war schon immer arm. Regen fällt so selten, daß es angemessener ist, von einer Wüste zu sprechen als von einem Landstrich, der von einer Dürrekatastrophe heimgesucht wurde. Bewohner, aber auch Mitarbeiter ausländischer Hilfsorganisationen erklären einhellig, daß die seit zwei Jahren auf Haiti lastenden Sanktionen die Region in ein Notstandsgebiet verwandelt hätten. Das jetzt auf Druck der US- amerikanischen Regierung vom UNO-Sicherheitsrat verhängte Total-Embargo bringt eine unbestimmte Zahl von Menschen an jene Schwelle, unterhalb derer Überleben schlicht unmöglich ist.

Zwar sind Medikamente und Lebensmittel von dem neuerlichen Embargo ausgenommen. Jedoch sind sich Vertreter der in Haiti aktiven Hilfsorganiationen, darunter CARE, darin einig, daß die Sanktionen die ohnehin großen Probleme bei der Verteilung noch erheblich vergrößern werden. Ein Problem ist der durch das Embargo erheblich eingeschränkte Transport von Gütern auf die Insel. Selbst Mitarbeiter des „World Food Progam“ – immerhin eine Einrichtung der UNO – klagen über mangelnde Transportmittel für Medikamente nach Haiti. Haben die Güter das Land erst einmal erreicht, stehen ihrer Verteilung weitere Probleme im Wege. Weder für die Entladekräne am Hafen noch für LKW gibt es Ersatzteile. Trotz der schlechten Versorgungslage landeten in den vergangenen Monaten vergleichsweise wenige Hilfslieferungen in Händen, in die sie nicht gelangen sollten. Jedoch wird befürchtet, daß als Folge der Verschärfung Diebstähle und Versuche, Dinge für den Eigenbedarf abzuzweigen, erheblich zunehmen werden.

Im Nordwesten existiert erst gar kein Programm zur Verteilung von Medikamenten. Edinel Jean-Baptiste, Krankenschwester am einzigen Krankenhaus von Bombardopolis, muß sich, um an Medikamente zu kommen, Geld von reicheren EinwohnerInnen leihen. Damit macht sie sich dann in das fast 300 Kilometer entfernte Port- au-Prince auf. Der Trip kostet sie – falls die Straßen denn passierbar sind – 30 US-Dollar. Die Summe müßte sie, zuzüglich des Preises für die Medizin, ihren Patienten in Rechnung stellen. Doch die haben normalerweise kein Geld. Kenneth Freed (wps), La Vie