Berliner Alleingang für Ostbeschäftigte

■ Ostlöhne im öffentlichen Dienst bis Ende 1996 auf Westniveau / Konflikt mit Tarifgemeinschaft vorprogrammiert

Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) bemühte gestern das nationale Pathos, um den Vorstoß des Senats zur Angleichung der Ost- an die Westtarife im öffentlichen Dienst zu verteidigen. Er wisse, daß aus den übrigen Bundesländern nun eine „Fülle von Anwürfen“ kommen werde, doch habe Berlin „als Werkstatt der Einheit“ keine andere Alternative.

Nach wochenlangen fruchtlosen Verhandlungen und zahlreichen Warnstreiks in Schulen, Kindertagesstätten und öffentlichen Betrieben beauftragte das Finanzkabinett nun gestern Innensenator Dieter Heckelmann (CDU), in der kommenden Woche mit den Gewerkschaften Gespräche über eine Angleichung der Ost- an die Westlöhne sowie Tarifverhandlungen über eine Arbeitszeitverkürzung bei Teillohnausgleich zu führen. Die stufenweise Anhebung der derzeitigen 80-Prozent-Einkommen für die rund 110.000 Beschäftigten im Ostteil der Stadt an das Westniveau soll mit übertariflichen Zulagen bis Ende 1996 erreicht werden. Noch vor der Sommerpause will der Senat eine Vorlage in das Abgeordnetenhaus einbringen.

Mit diesem gesetzgeberischen Verfahren, so Diepgen gestern, werde der bundesweite Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, der im Oktober diesen Jahres eine Erhöhung auf 82 Prozent vorsieht, „nicht tangiert“. Auch werde die „vertragliche Basis“ der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) „nicht verletzt“. Eine Einschätzung, die beim TdL-Geschäftsführer Jürgen Peter gestern Empörung auslöste. Auch „übertarifliche Maßnahmen“ bedürften der Zustimmung der Länder. Den Vorstoß Berlins kommentierte er mit den Worten: „Wir kämpfen um jeden Pfennig, und Berlin genehmigt sich einfach einen Sonderbeitrag. Dann kann man ja gleich der TdL fernbleiben.“ Aufgrund der neuen Ausgangssituation wollte Peter eine baldige Sondersitzung der TdL nicht ausschließen. Die zusätzlichen Mittel für die Personalausgaben will der Senat in den Doppelhaushalt 95/96 einarbeiten. Um die bereits jetzt abzusehenden Deckungslücken aufzufangen, müsse „in allen Bereichen“ hart gespart werden, steckte Diepgen die Marschroute ab. Nach Senatsangaben schlägt allein ein Prozent mehr Lohn für die Ostbeschäftigten mit jährlich rund 47 Millionen Mark im Haushalt zu Buche.

Ein strahlendes Gesicht machte gestern Kurt Lange, Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Seine Gewerkschaft hatte dem Senat bis heute ein Ultimatum für ein „einigungsfähiges Angebot“ gestellt und im Falle des Scheiterns mit einem Streik gedroht. Voll des Lobes war der ÖTV-Chef für Diepgen, der Innensenator Heckelmanns zögerlicher Verhandlungsführung nun „Dampf gemacht“ habe. Die für heute und morgen angekündigten Warnstreiks in verschiedenen öffentlichen Ämtern und Institutionen Ostberlins sollen ungeachtet der gestrigen Entscheidung stattfinden. Alle weiteren geplanten Kampfmaßnahmen vom 30. Mai bis 3. Juni sollen hingegen abgeblasen werden, sobald eine offizielle Einladung von Heckelmann die Gewerkschaft erreicht hat. Severin Weiland