Nachschlag

■ George Taboris „Kannibalen“ im carrousel-Theater

Bon Appetit. Auf einer steinernen Feuerstelle in der Mitte der Holzbaracke steht ein großer Metallkübel, ein Pißpott, in dem ein Koch mit einem Löffel einen feinen Fleischeintopf abschmeckt. Es sind die besten Filets vom dicken Puffi, der seinen Mithäftlingen einen Brotkrumen entwendete, daraufhin geschlachtet und fachgerecht tranchiert wurde – und nun einfach nicht garen will. Unerhört, was dieser George Tabori in seinem vor 25 Jahren erstmals in Deutschland gezeigten Stück macht: mit Entsetzen Scherz treiben, KZ-Insassen als Kannibalen zu porträtieren? Damit bricht er diverse Tabus, um sie gleich wieder zu erneuern. Denn natürlich entdeckt ein SS-Wärter die um das „Abendmahl“ versammelten Mäuler und befiehlt den Verhungernden, ihren Glaubensgenossen vor seinen Augen zu verspeisen. Alle (bis auf zwei) weigern sich und werden vergast. Natürlich verschlingt er daraufhin selbst die Mahlzeit, was Gut und Böse wieder fein trennt: Der Nazi ist der wahre Kannibale.

Tabori wäre nicht der gefeierte Tabori, wollte er mit seinem Spiel nicht mehr als schockieren. Er läßt diese Begebenheit von den Söhnen der Opfer im wechselnden Rollenspiel rekonstruieren, wobei es ihm vordergründig um die Aneignung von Geschichte geht. Im Kern aber wohl um die Erörterung kniffliger Probleme wie: Essen oder Nichtessen? Überleben, um Zeugnis zu geben, oder sterben, um die Würde zu bewahren? Oder pathetisch: Kann man menschlich sein in einer unmenschlichen Zeit? Das sind jedoch nicht die Fragen, die Peter Schroth im carrousel stellt. Der Regisseur kippt das Gleichgewicht zwischen Spiel und Ernst aus der Balance. Zuerst, indem er die Zuschauer aufdringlicherweise auf der Bühne plaziert, wo sie das beklemmende Geschehen in der stilisierten Labor-Baracke hautnah erleben sollen. Vor allem aber, indem das junge Ensemble mit fahlen Gesichtern über die Bühne trabt und tollt, chorisch spricht, singt, grummelt, säuselt: Statt gefährlichem Leichtsinn, statt der Groteske nur Theaterschweiß. Noch weniger gelungen ist es, die Hauptfigur des Stückes, den Moralisten, der zwar wider den Kannibalismus kämpft, aber gerade durch seine Gewaltlosigkeit einen möglichen Widerstand gegen die Nazis auch verhindert, bewußt als dämonisch augenrollenden Sektenführer zu karikieren. Damit veräußert Schroth neben dem Närrischen auch alles Tiefergründige durch leere Aktion. Wir sehen nur, wie sich Schauspieler ernsthaft abrackern, für junge Zuschauer junge Menschen zu verkörpern, eben: die Geschichte aufarbeiten. Natürlich ist die Inszenierung trotzdem kein Mißerfolg. Wer Tabori spielt, kann auch mit mäßiger Kunst noch Gewinn verbuchen: einen Betroffenheitsbonus und ein reines Gewissen. Dirk Nümann

Nächste Vorstellung: heute, 18 Uhr, carrousel-Theater, Hans- Rodenberg-Platz, Lichtenberg.