Verspätete Wertediskussion

Ulrike Meinhofs „Bambule“ – ein Scheingefecht?  ■ Von Klaudia Brunst

Es sei wohl bei weitem nicht sein bester Film gewesen, erklärte Eberhard Itzenplitz lapidar nach der Ausstrahlung von „Bambule“ – jenem Fernsehspiel, das der Südwestfunk 24 Jahre unter Verschluß gehalten hatte, weil man es 1970 nicht mit der Verfassungstreue in Übereinstimmung bringen konnte, die Autorin und mutmaßliche Terroristin Ulrike Meinhof mit einem Nachweis im Abspann für ihr gewaltsames Tun auch noch zu adeln. Bei der Befreiung von Andreas Baader zehn Tage vor dem geplanten Ausstrahlungstermin war ein Polizist lebensgefährlich verletzt worden. Aus Panik vor den rechtsstaatlichen Folgen schloß sie sich den flüchtenden Kaufhausbrandstiftern Baader und Ensslin an. Mit ihrem Sprung aus dem Fenster des Büros für Soziale Fragen hatte sie ihrer legalen Karriere als Journalistin ein abruptes Ende gesetzt.

Auch wenn „Bambule“ wohl kaum zu einem Höhepunkt der Fernsehspielgeschichte geworden wäre, der Film – so man ihn beizeiten gesendet hätte – hätte für Ulrike Meinhof durchaus der Beginn einer Laufbahn als Fernsehspielautorin werden können. Ihre Geschichte über die beiden fürsorgeerzogenen Mädchen Irene und Monika ist ein typisches Debütantinnenstück im Geiste seiner APO- bewegten Zeit.

Mit viel Wille zu politischem Sendungsbewußtsein entspinnt sich am Schicksal zweier Trebegängerinnen eine realistische Studie über die Zustände im deutschen Heimwesen der 70er Jahre. Mit rigiden Verwahrungsmethoden werden die Jugendlichen kaum erzogen, sondern eher unter Verschluß gehalten. Jedes Abweichen von der Norm wird mit Zigarettenentzug oder Ausgangssperre, mit Fernsehverbot und Karzer bestraft. Zu Zwangsarbeit gezwungen, können sich die Jugendlichen nicht entfalten, sie sollen es auch gar nicht.

Recht zäh und zuweilen mit einem wenig dienlichen pädagogischen Pathos entwickelt sich der Plot über 90 Minuten zu seinem kämpferischen und gleichwohl auch ratlosen Ende: Mehr miteinander reden, ein Konzept entwickeln, den Aufstand systematisieren, müsse man, erkennt Eve, die Rädelsführerin der nächtlichen Bambule im Mädchenheim. Da hatte sich der Unmut über die unwürdigen Lebensumstände im Fürsorgegewahrsam endlich in einem chaotischen Aufstand Luft gemacht; Mobiliar war zu Bruch gegangen, geändert hatte sich dadurch aber noch nichts.

„Ist das schon ein Aufruf zur Gewalt?“ fragte sich der Programmverantwortliche von heute, SWF-Intendant Peter Voß, bei der anschließenden Diskussion. Wohl eher nicht. „Den Film hätte man immer senden können“, meint er, und Klaus Dieter Röhl, nach rechts gewendeter Ex-Konkret-Herausgeber und Meinhof-Gatte, souffliert: „Das Klima der damaligen Zeit ist heute unvorstellbar.“

In der Gesprächsrunde wiederholte sich dann jenes Mißverständnis, das zu dem Verbot des Films geführt hatte, ein zweites Mal. Über eine halbe Stunde hinweg debattierten die Zeitzeugen von damals, Klaus Dieter Röhl, Eberhard Itzenplitz und Meinhof-Freund Jürgen Seifert, ausschließlich Ulrike Meinhofs politische Vita. Hartnäckig verbissen sich die Protagonisten in der alten Gewalt- Frage: War es in der damaligen Situation richtig, zu den Waffen zu greifen, haben die 68er etwas erreicht, oder war doch der ganze Ansatz „verfehlt“, wie Röhl immer wieder zu bemerken wußte?

Erst sehr spät entschloß sich die Runde, das eigentliche Anliegen des Films, die Reform der Heimerziehung, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Gabriele Müller-Trimbusch, Bürgermeisterin von Stuttgart und ausgewiesene Sachverständige in Fürsorgefragen, bilanzierte die Reformbestrebungen der sozialliberalen Ära: Mit einem liberaleren Edukationsmodell wolle man die dem Staat anvertrauten Jugendlichen für eine „eigenverantwortliche, zufriedene, selbstgestaltete Zukunft“ fit machen. Ob es dafür vor allem Strenge, traditionelle Werte und pädagogische Führung braucht, wie Kritiker heute zuweilen wieder anmahnen, oder ob die freie Entfaltung der geschundenen kindlichen Seele unabdingbar oberste Prioriät hat, ist derzeit die Kardinalfrage der Jugendpolitik.

Und hier wird „Bambule“ dann wirklich zu einem interessanten Dokument: So wie der Film einen Übergangspunkt im Leben seiner Autorin markierte, legt er schon 1970 die Ratlosigkeit in der Frage offen, wie die Lebenswelt der gesellschaftlich chancenlosen Fürsorgezöglinge sinnstiftend verändert werden sollte. Ulrike Meinhof hat hierzu keine inhaltlichen Perspektiven aufgezeigt, ihr Fernsehspiel endet in der großen Bambule. „Mach was, egal was, nur mach was!“ fordert Eve ihre Heimgenossin Monika auf. Als das Porzellan dann zerschlagen ist und die Rädelsführerinnen im Karzer sitzen, besinnen sich die Mädchen darauf, daß man auch wissen muß, wofür man kämpft. Die Frage, wohin der Sprung aus dem Fenster letztlich führt, ist immer noch offen. Raus in eine bessere Zukunft oder rein in den Knast?