Kein Gott greift ein

■ Das LIZ-Theater spielt „Die Atriden“ als Collage mit Witzgeschwindigkeit

Eigentlich ein Name nur, ein Titel, ein Stück wie jedes andere. Und doch ruft die neue Produktion am Theater am Halleschen Ufer alte Schaubühnen-Geister herbei, erinnern „Die Atriden“ doch an die legendäre Orestie von Peter Stein an gleicher Stätte. Davon können die Alten noch manches Detail verzückt am Lagerfeuer besingen. Doch der Blick zurück ins Bühnenglück vergeht schnell. Das LIZ-Theater will ja etwas ganz anderes. Nicht ein Drama spielen, sondern ein Projekt machen, nicht die dreiteilige Orestie des Aischylos soll erzählt werden, sondern eine Collage aus dem Atridenstoff: Einige Seiten von Hauptmann, wenige Verse von Sophokles, manches von Euripides und auch ein paar Zeilen des Aischylos. Sozusagen ein gespielter Digest zu diesem Thema, discover the antique theatre in one day: Jede Fabel reduziert auf den blutigen Höhepunkt, Mord und Totschlag, damit auch jeder den ewigen Kreislauf des Schlachtens verstehe.

Zu Beginn gibt es erstmal Musik, die bekanntlich zu jedem Kampf, auch Theaterkampf, gehört. Freddie Quinn trällert über die Heroen von Troja „Junge, komm bald wieder“, ein unidentifizierter politischer Künstler verkündet „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“. Das Volk sagt chorisch „Der schwarze Wahnsinn wächst im Volk“, marschiert soldatisch über die schwarze weite Bühne, die nur ein malerisches Himmelsprospekt ziert (da wohnen die Götter, die aber leider an diesem Abend nicht eingreifen); schließlich wiegen sich alle Darsteller im Walzertakt: Zwischen Antike und Gegenwart, Erhabenem und Banalem vollzieht sich hier ein fliegender Wechsel, sozusagen in Witzgeschwindigkeit.

Dann geht es endlich richtig los mit der Familienschlacht. Iphigenie soll von Vater Agamemnon geopfert werden. Er ist grau gekleidet und blond gelockt, sie ein Dummchen im Abendkleid. Doch ehe die Tat vollbracht ist, werden die beiden durch neue Akteure ausgetauscht. Nun ist er kurzgeschoren und sie selbstsüchtig. Aber auch die neuen Heroen haben nur wenige Minuten Zeit, heroisch zu sein, dann dürfen andere Schauspielerinnen ihr mäßiges Talent als rächende Mutter beweisen, und bald steht auch der ein oder andere Orestes auf die Bühne: Jeder darf beim LIZ-Theater einmal eine Hauptrolle spielen. Zwischendurch wird natürlich getötet, wiederauferstanden und wieder getötet. Irgendwann, da hilft keine Textkenntnis, gerät der Reigen durcheinander, die kausale Verknüpfung von Auftritt, Mord, Abtritt zerbricht, nur ein Motiv verknüpft das Wirrwarr: Im entscheidenden Augenblick überreichen die Helden einen Colt, den sie zum Krachen bringen.

Nun hat es Regisseur Peter Lange keineswegs darauf angelegt, die Unterschiede zwischen den Autoren herauszuarbeiten. Er will auch nicht den Mythos freilegen, der ja nur in der Form des Dramas überliefert ist. Ebensowenig interessiert er sich für Hauptmanns Tetralogie, die ja bewußt das Archaische betont, den Menschen als Spielball der Götter zeigt und so eine harsche Kritik am Humanismus formuliert, eine Gegen- Goethe-Iphigenie. Nein, Peter Lange ist vor allem ein Spaßmacher. So tragen die Schauspieler Phantasiekleidung, greifen sich heftig chargierend an die Wäsche, tröten, juxen, lieben, ohne das zu ergründen ist, warum sie dies alles tun: Von innerer Bewegung, von Psychologie keine Spur; von dramaturgischer Konzeption, einer bewußten Montage etwa, nichts zu sehen. Selbst NVA-Uniform, rote Fahnen, das Lied vom kleinen Trompeter wirken nur wie Accessoires. Das Ganze ist bloß ein großer Ulk, bei dem allerdings selbst die kleinsten Einfälle über Gebühr ausgespielt werden.

Nun wäre dieses Projekt eigentlich nur in der Schülerzeitung erwähnenswert, wäre das LIZ-Theater nicht eine ordentlich senatsgeförderte Freie Gruppe mit vier ABM-Stellen, die aus Profis und Schauspielschülern besteht, die einen öffentlich finanzierten Spielort nutzt, die ehrgeizig eine Hauptmann-Trilogie ankündigt und dennoch nicht mehr als nur einen groben Gymnasiastenunfug liefert. Man sei, schreibt das LIZ-Theater entschuldigend, „auf der Suche nach einer eigenen Ästhetik“. Davon war nun leider nichts zu sehen. Hier ist Schauspielern finanzierte Arbeit beschafft worden, die auch reichlich und demokratisch verteilt wurde – mehr nicht. Dirk Nümann

Ab jetzt im Theater Forum Kreuzberg, bis 12.6., Fr.–So., 20 Uhr, Eisenbahnstraße 21, 16./17.6. und 24./25.6., 20 Uhr im ZELT-Pankow, Breite Straße 43a.