Marcuse für Teenager

■ Alle reden vom Hippie, junge Leute flechten wieder Blumen ins Haar, aber wer zum Teufel waren die Typen eigentlich? Mike Kelly (39) und John Miller (40), amerikanische Poverty-Pop-Künstler, geben ein Kurzseminar...

Würden Sie heute den Leuten trauen, vor denen Ihre Eltern Sie gewarnt haben? Na hoffentlich, wo selbst Stadien- Rock inzwischen reif ist für Charles Manson und Family: Guns'n Roses covern Gassenhauer des Satanisten und Sharon-Tate-Mörders, C&A oder „Süddeutsche Zeitung“ werben für ein Revival des „white trash“, und aus der Legalisierung von Marihuana ist hierzulande eine Staatsaktion geworden.

Der Underground war auf das Revival des bösen Mannes im Wallegewand vorbereitet. Mike Kelly vertritt in seiner Kunst die dunkle Seite der Flower-power, mit der er Plattencover für Sonic Youth gestaltete oder Rockvideos der kalifornischen Hardcore-Band Minutemen drehte. John Miller lebt in New York und arbeitet mit der Verdrängung amerikanischer Sozialgeschichte und deren Kitschsymbolen – Alltagstrash gießt er in kackbraune Plastikobjekte. Beide haben sich mit den Mythen wie Realitäten des Outsidertums der Woodstock- Generation beschäftigt.

John Miller: Amerikanische Geschichtsschreibung versucht typischerweise, jede signifikante Verbindung zwischen Radikalismus und Arbeitergeschichte unter den Tisch zu kehren. Aus diesem Grund wissen die meisten nichts von beispielsweise den Wobblies, der International Electrical Workers Union oder der linksgerichteten, das heißt vor-mafiösen Gewerkschaftsbewegung. Die Hippies wußten auch nichts über sie.

Mike Kelly: Das liegt daran, daß sie ein Problem mit der alten Linken hatten. Es war aber trotzdem nicht so wichtig, weil sich die Yippies [Teilbewegung, so benannt nach Jerry Rubins „Youth International Party“; d.Red], neben anderen, darauf verlegten, Pop-art- Strategien anzuwenden, um eine Jugend zu radikalisieren, die von solchen Dingen keine Ahnung oder kein Interesse daran hatte. So wurden sie zu einer populären Bewegung.

JM: Sie haben allerdings auch dadaistische Taktiken übernommen. Als ich in der High-School Jerry Rubins „Do it!“ las, war ich platt, wie er seine Forderungen nach Ablehnung jeglicher Repression in total kindische Sprüche verpackte, zum Beispiel „Lets Make Love in the classroom NOW!“ Philosophisch gesehen ist Nikes „Just Do It!“-Kampagne nicht so weit davon weg.

MK: Das war Marcuse für Teen- Publikum; sie rebellierten eher gegen ihre eigenen Strukturen als gegen die Strukturen älterer Leute. Fragen wie „Warum kann man nicht auf der Straße pissen?“ verdeutlichen die Art repressiver Kultur, die wir hier haben, in der es keine öffentlichen Toiletten gibt. Ich fand diese simplen Gesten in der Hinsicht ziemlich effektiv. Oder als Rubin und Abby Hoffman [Mitstreiter und späterer Kontrahent Rubins; d.Red] Geld von der Uhr der New Yorker Börse geworfen haben.

JM: Es ist witzig, wie Hoffman bis zum Ende seine Radikalität beibehalten hat, während Rubin so tief sank, einen Gesundkostladen zu führen.

MK: Na ja, er ist halt in irgendein Geschäft eingestiegen. Hoffman und Rubin lieferten sich später heiße Debatten als „der Yippy und der Yuppie“. Rubin stand immer auf Verkleidungen; er verkleidete sich gerne als Soldat aus dem Revolutionskrieg. Der Unterschied war, daß Hoffman in den Untergrund getrieben wurde. Das hielt ihn radikal. Er mußte jahrelang unter falschem Namen leben, aber selbst so engagierte er sich weiter in Umweltfragen. Aber wo ich aufgewachsen bin, war der wichtigste Einfluß die White Panther Party. Die waren zunächst mal eine weiße Version der Black Panther Party. Sie haben das Zehn- Punkte-Programm übernommen. Es ging um Ficken auf der Straße, Rock 'n' Roll für umsonst, Dope für umsonst, alles für umsonst und ähnliche undurchsetzbare Scherze. Soweit ich weiß, waren sie die erste Gruppe, die Rock 'n' Roll politisch einsetzte. John Sinclair war ihr Anführer; er managte MC5.

JM: War Sinclair nicht selbst auch Musiker?

MK: Er machte Freejazz; er spielte Krachsaxophon.

JM: Und er hat „Guitar Army“ geschrieben, das einen schroffen Gegensatz zwischen klassischer Musik und Rock proklamierte; behauptete, daß das Symphonieorchester die entfremdete kapitalistische Arbeitsweise widerspiegele, durch die quasi-industrielle Arbeitsteilung, wogegen der improvisierende Charakter der Rockmusik etwas von der Subjektivität des einzelnen in den Prozeß einbringe.

MK: Er wollte Rock 'n' Roll als Waffe zur Radikalisierung der Jugend einsetzen. Er versuchte, eine populäre Musikavantgarde zu schaffen. Manchmal organisierte er Shows, bei denen weiße Psychedelic-Bands gemeinsam mit schwarzen Freejazz-Bands auftraten. MC5 zitierten in ihrem Song „Star Ship“ sogar Sun Ra. Aber später wurde er populistisch und begeisterte sich für Rockpopbands der übelsten Art wie Grand Funk Railroad. Sein Fehler war, daß er sich von dem Versuch, den Hörer zu radikalisieren, einfach darauf verlegte, sich die Ästhetik des Publikums zu eigen zu machen.

JM: Zappa war auch so eine Dada-Prankster-Gestalt. Er zeigte sich zu wunderschönen Melodien und Arrangements fähig, war aber nie glücklicher, als wenn er Kommerzialität attackierte und deren Tropen nachäffte.

MK: Das ist ironisch, weil er der erste war, der mit Konsumverarschung viel Geld machte – wenn

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man MAD mal beiseite läßt, das nie als Avantgarde galt. Er ist ein Vorläufer von Malcolm McLaren.

JM: Aber er war ein wesentlich besserer Produzent als McLaren; er fand idiosynkratischere Bands und hatte ein besseres Ohr für Talent [Zappa entdeckte u.a. Alice Cooper; d.Red.].

MK: Er hat sie tun lassen, was sie taten. Er hat sich nie eingemischt – außer bei der Verpackung, an deren Optik er großen Anteil hatte. Damit war er glaube ich gewiefter, als ihm bewußt war, weil er die extremsten und avantgardistischen Acts nehmen konnte, und solange er sie hip genug verpackte, konnte er sie verkaufen.

JM: Malcolm McLarens Selbstverständnis wirkt im Vergleich damit akademisch.

MK: So altmodisch. Das hatte man bei den Who und ihrem Pop- art-Stil schon gesehen, dann auf einem sekundären Level bei der puren Kommerzialität der Monkeys... Und schließlich Kindersendungen, in denen sich alle als Elefanten oder sowas verkleiden.

JM: Eine der interessanteren Splittergruppen sind für mich die Psychedeliker, die Konzeptkünstler wurden – wie Henry Flint, Robert Barry oder Lawrence Weiner zum Beispiel. Sie haben kein psychedelisches Image weitergetragen, sondern ihre Denkweise hat den Impuls formalisiert.

MK: An der Westküste waren einige der Oberflächenfetischisten wirklich psychedelisch, John McCracken zum Beispiel. Er brachte es auf diesen Space-Technologie-Dreh. Ich habe McCracken mal sagen hören, Kubricks „2001“ sei ein wirklich wichtiger Film, weil der Monolith die Idee der reinsten Form repräsentiere...

JM: Hat er das ernst gemeint?

MK: Bitter ernst. Er hat auch Mandalas gemalt.

JM: Ich habe „2001“ immer als Parodie auf den Minimalismus aufgefaßt.

MK: Vielleicht, aber er wurde auch ernstgenommen. Die Minimalisten konnten ironisch bei den Sachen sein, mit denen sie als seriös auftraten.

JM: Aber das kulturelle Klischee verkauft uns den Hippiekünstler, der Lederarbeiten, indianischen Federschmuck und glasperlenbesetzte Täschchen bastelt.

MK: Das war immer ein Witz. Über diese Leute hat jeder immer gelacht.

JM: Aber jetzt ist ein Prozeß angelaufen, die Witze der dominierenden Kultur über Hippies aufzugreifen und zu historischen Tatsachen umzuschreiben.

MK: Stimmt. Oder die meisten proletarischen Vorstellungen von Hippies. Oder Hollywoods Vorstellung vom Hippie und zu sagen, so seien die Hippies gewesen. Meine Auffassung von Hippie- Kultur ist dadaistischer. Sie war dunkel; sie war schwarz; sie war müll-orientiert.

Manson zum Beispiel war eine attraktive Gestalt für die Hippies. Das führte zu einer Dichotomie zwischen guten und bösen Hippies, aber davor gab es sowas wie einen guten Hippie nicht, Hippies waren böse.

JM: Oder zumindest amoralisch...

MK: Ja, also war alles, was ein Hippie tat, politisch okay. Und darum wandten sich die Hippies in einer bestimmten Phase jeglicher Guerillaaktivität zu. Sie waren der Untergrund; Charles Manson war ein Held – oder die Guerillaaktivitäten der Black Panther Party.

JM: Aber die Black Panthers haben sich nie als Hippies dargestellt.

MK: Sie hatten aber eine Koalition mit den Hippies. Die Idee mit dem Gratismahlzeiten-Programm hatten sie von den Diggers. Die Diggers waren Hippies par excellence. Und innerhalb der Panthers gab es die „Bippies“, die Black Hippies. Aber die älteren Black Panthers konnten damit nichts anfangen, weil die älteren hauptsächlich Machos mit Straßenerfahrung waren.

JM: Ich glaube, die Black Panther Party hat sich von der Hippiebewegung dadurch unterschieden, daß sie ein klareres Selbstverständnis hatte. Ich glaube, sie waren besser geschult und haben ihr Image bewußter aufgebaut. Schließlich waren die Hippies auch nie Gegenstand systematischer Verfolgung...

Kent State [Vietnam-Demonstration in Ohio, bei der die Polizei in die Menge schoß und vier Menschen tötete; d.Red.] war der einzige Fall, in dem weiße Dissidenten so schlecht behandelt wurden wie Schwarze. In dem Fall ging die Regierung zu weit und verschaffte, indem sie weiße bürgerliche Studenten beschoß, der Antikriegsbewegung genug Nachdruck, um das amerikanische Engagement in Vietnam zu beenden.

MK: Heute hat man den interessanten Fall, daß der Angriff des Bureau of Tobacco and Firearms auf David Koresh so eine Art Gegenströmung ausgelöst hat; es überrascht mich nicht, daß die Überlebenden mit Verurteilung wegen Totschlags davonkamen. Den Leuten paßt die Vorstellung nicht, daß Cops sich einmischen und Leute fertigmachen, die ihr eigenes Leben leben.

JM: Aber eines der signifikantesten Vermächtnisse der Sechziger ist die Verbindung zwischen Hippie-Kommunen und dem Aufkommen von Kulten und Kultfiguren wie Jim Jones [Anführer des Peoples Temple, dessen 916 Mitglieder 1977 in Guayana Massenselbstmord verübten; d.Red.], Manson und Koresh – von denen Manson und Koresh übrigens beide Rockmusiker waren.

MK: Die Depolitisierung der Hippiekultur trug zu ihrer Mystifizierung bei. Die Eskapisten wandten sich der einen oder anderen Form von Patriarchen zu. Das führte zuallererst zu Gurus, Leute wurden Krishnas oder Moonies, und dann kam der Aufstieg der christlichen Hippie-Rechten. Ganz am Anfang waren Hippies völlig antichristlich, aber dann kamen Gruppen wie Kinder Gottes. Mir war es egal, ob sie freien Sex propagierten, sie blieben trotzdem Christen, und für mich bedeutete das, sie waren antirevolutionär.

JM: Etliche Hippie-Prinzipien leiten geradewegs zum christlichen Fundamentalismus über, wie Hauserziehung...

MK: ...und ekstatische Religion...

JM: ...und Survival-Ideologie.

MK: Für Survival-Ideologie habe ich wirklich was übrig; es ist praktisch, daran ist nichts Mystisches.

JM: Ja, aber es gerät in ein ziemlich reaktionäres Fahrwasser. Die Survivalisten sind nur zu gerne bereit, sich vom Rest der Welt auszuklinken, und nach uns die Sintflut. Du hast deine kleine Holzhütte; du hältst deine selbstgerechten Überzeugungen intakt. Das entspricht einem echten Glauben an Himmel und Hölle. Diese Denkweise hat James Watt dazu verleitet, die nationalen Wälder zu verscherbeln, weil der Weltuntergang sowieso bevorsteht.

MK: In dieser Hinsicht ist es chiliastisch. Aber Reagan hat politische Entscheidungen auf Hokuspokus gegründet. Das ist was anderes, als wenn jemand sagt: „Ich muß vorbereitet sein, wenn sie den Saft abstellen.“ Oder begreift, daß sein Leben in der Hand der Regierung liegt. Unter dem Aspekt respektiere ich die Fähigkeit der Gangs, sich zu bewaffnen; ihre Ästhetik widert mich an, weil sie im wesentlichen kapitalistisch ist.

JM: Weil sie Kapitalisten sind, sind sie nicht autark. Mafiageschäfte machen ein Drittel des Bruttosozialprodukts aus. Es ist einfach ein System im System; den kleineren Gangs bleibt nichts anderes übrig, als über ihr Gebiet mit den größeren zu verhandeln.

MK: Kürzlich habe ich ein Buch mit dem Titel „New York 1913“ gelesen, in dem es um die Verbindung zwischen den Wobblies und den Avantgardebewegungen der Zeit ging. Es hatte in Patterson, New Jersey, einen großen Textilarbeiterstreik gegeben. Ein paar Sozialisten und Künstler reisten an, verbündeten sich mit den Wobblies und erklärten sich bereit, den Streik im Madison Square Garden nachzustellen, wobei sie die Streikenden als Komparsen in einer Art lebendem Bild einsetzten. Sie machten ein Spektakel daraus, um dem Streik Aufmerksamkeit zu verschaffen. Natürlich waren die Arbeiterbewegungen proletarisch, und ihre Ästhetik ging eher in Richtung Karikaturen als europäische Avantgarde. Und gleichzeitig verliebten sich europäische Avantgardisten in Karikaturen und sowas. In dieser Phase ergab sich eine interessante Kollision dieser beiden Welten, proletarischer und avantgardistischer Ästhetik. Psychedelische Musik war eine proletarische Version atonaler Musik, die auf einer sehr körperlichen, ekstatischen Ebene arbeitete: Rasten wir aus, machen wir uns einen Spaß.

JM: Neben „Friday on my Mind“ von den Easybeats erinnert es mich an Benjamins Diktum, „dasselbe Publikum, das einen grotesken Film progressiv aufnimmt, wird einen surrealistischen Film reaktionär aufnehmen“. Aber der Vorbehalt, den ich hier anbringen würde, ist, daß man surrealistische Filmtechnik im Rockvideo zu größtenteils reaktionären Zwecken hat wiederaufleben lassen. Ich behaupte, daß wir zu Kitschversionen unserer eigenen Geschichte verdammt sind. Und in dieser Hinsicht erscheint einem Dekadendenken als eine ziemlich junge Erfindung.

MK: Oliver Stone ist das schlimmste Beispiel dafür, wie jemand angeblich die Probleme der Sechziger aufarbeitet, während er eigentlich nur Klischees aufwärmt.

Der Text ist in einer gekürzten Fassung einem Gespräch entnommen, das unter dem Titel „Too Young To Be a Hippy, Too Old To Be a Punk“ in dem Berliner Magazin „B“ (herausgegeben vom Künstlerhaus Bethanien) dieser Tage erscheinen wird. Übersetzung von Clara Drechsler.