Ein roter Knopf und viele Trümmer

„Ich sehe die Industrie überall sprießen“: Wenn der Kanzler in Leuna und Bitterfeld neue Betriebe einweiht  ■ Von Donata Riedel

Also los!“ Der Kanzler drängelt den Chemieboß. Beide drücken auf einen roten Knopf. „Soeben ist die Produktion angelaufen“, jubelt der Pressesprecher der Bayer AG ins Mikrofon. Auf der Großbildleinwand neben dem kalten Büffet sehen Journalisten und Ehrengäste außer Knopf und Kanzler einen Computer-Monitor, dahinter ein Regal mit Leitzordnern. Das Anfahren einer Produktionsanlage ist nur mehr virtuelle Realität.

Moderne Chemie: Auch in Bitterfeld erkennt man sie daran, daß nichts mehr knallt und stinkt. Vollautomatisch wird hier Methylzellulose hergestellt – ein Pulver aus vergorenem Zellstoff, das dem Tapetenkleister zu Festigkeit verhilft. Die Chemiefacharbeiter schauen auf bunte Bildschirme und schieben Regler.

Drei Jahre nach seinem „Kanzlerwort“: persönlich für den Erhalt der ostdeutschen Chemieindustrie haften zu wollen, ist Kohl am vergangenen Mittwoch erneut in das Dreieck Buna-Leuna-Bitterfeld gereist. Bevor er am Nachmittag den roten Startknopf bei Bayer drückte, hatte er sich in Leuna für die bislang größte Investition in Ostdeutschland feiern lassen – die 4,3 Milliarden Mark teure Raffinerie „Leuna 2000“. Auf einem sauber planierten Gelände haben Kohl und Philippe Jaffré, Chef des französischen Ölkonzerns Elf Aquitaine, gemeinsam zum Spaten gegriffen und ein kleines Loch ausgehoben, aus dem die Raffinerie wachsen soll.

Dieser Mittwoch „ist ein großartiger Tag“, sagt Kohl in seinen Reden in Leuna und Bitterfeld mehrmals. Den Bescheidenen mimend, reicht er das Lob von Jaffré und Bayer-Chef Manfred Schneider – „mein besonderer Dank gilt Ihnen, Herr Bundeskanzler“ – weiter: an die Leuna-Betriebsräte, die den Arbeitsplatzabbau schluckten. Nur einmal kann Kohl die satte Selbstzufriedenheit nicht aus seinen Worten heraushalten. „Man hat mir ja oft Visionen vorgehalten, die nicht eintreten werden“, erinnert er an sein Versprechen, daß der Osten eine „blühende Industrielandschaft“ werde. „Ich sehe sie überall sprießen.“

Auf daß dieses Bild vom deutschen Osten nicht getrübt werde, schwebt der Kanzler an diesem „großartigen Tag“ im Bundesgrenzschutz-Hubschrauber nur zu den beiden Punkten im Chemiedreieck, wo die High-Tech-Kathedralen aus der Trümmerwüste der DDR-Industrie wachsen; wo es erste Spatenstiche zu setzen, Startknöpfe zu drücken und Dank entgegenzunehmen gilt.

Das Kulturhaus der Leunawerke, ein grauer Klotz mit vier nach oben strebenden Säulen im Eingangsbereich, wird zur garantiert kritikfreien Zone. Hinter verschlossenen Türen kann sich der Kanzler auch den Betriebsräten aussetzen, die IG- Chemie-Chef Hermann Rappe schon lange auf „konstruktive Zusammenarbeit“ eingeschworen hat. „Wir haben den Kanzler nochmals daran erinnert, daß hier viele ihre Arbeitsplätze verloren haben, daß es für die älteren Arbeitslosen bessere Übergänge in den Vorruhestand geben muß und die Lehrlinge schließlich auch Arbeitsplätze brauchen“, erzählt eine Betriebsrätin nach der Klausur.

In den Leunawerken haben zu DDR-Zeiten 27.000 Menschen gearbeitet, heute sind es noch 11.300. Nach der Privatisierung werden 8.500 Arbeitsplätze „angestrebt“. 2.500 Menschen sollen in der Raffinerie ihr Auskommen finden, weitere Arbeitsplätze in vielen kleinen und mittleren Betrieben entstehen, die sich „wie um eine Säule“ (Kohl) um die Raffinerie ranken und von ihr gestützt werden sollen. Die alten Raffinerien aber, die heute noch in Leuna und Zeitz arbeiten, werden dann geschlossen.

Was Kohl den Leuna-Beschäftigten zum Arbeitsplatzabbau gesagt hat? Nichts offenbar. Trotzdem strömen auch die Betriebsräte zufrieden in den plüschigen Theatersaal, um den Festrednern zu lauschen. Da spricht zunächst Philippe Jaffré, der nach der Privatisierung von Elf Aquitaine als Unternehmer Gewinne erwirtschaften muß – und am liebsten aus dem ganzen Leuna-Projekt ausgestiegen wäre. Erst die Zusage, daß notfalls die (staatliche) Buna-AG sich an dem risikoreichen Projekt beteiligt, konnte ihn zum Bleiben bewegen. Außerdem mußte die Treuhand die russischen Firmen Rosneft, Surutneftegas und Megioneftegas herbeischaffen, die 24 Prozent der Leuna-Anteile übernehmen. „Wir müssen den Menschen hier zeigen, daß marktwirtschaftliche Produktion umweltverträglich ist und sichere Arbeitsplätze bietet“, sagt Jaffré – um im zweiten Atemzug „weiteres Engagement“ seitens der Treuhandanstalt und der Politiker für den Standort zu fordern. Die nächste Subventionsforderung kommt bestimmt. Auch Kohl beschwört den Erfolg der Marktwirtschaft; obwohl es doch, wie zu besten Planwirtschaftszeiten, allein die staatliche Intervention war, die dem Standort neues Leben eingehaucht hat.

Industriesanierung im Chemiedreieck, das heißt Totalabriß und Neubau modernster Anlagen, in denen das Kapital fast ohne das Zutun menschlicher Arbeitskraft akkumuliert. Wie in der Methylzellulose-Produktion in Bitterfeld, in die 80 Millionen Mark investiert wurden für 42 Arbeitsplätze.

Demokratie und Marktwirtschaft haben sich auch die Bewohner des Dorfes Spergau auf ihre Transparente geschrieben. In Spergau wird die Raffinerie „Leuna 2000“ errichtet. 80 Männer und Frauen aber sind mit Transparenten vor das Kulturhaus gezogen. „Spergau bleibt frei!“ „Selbstbestimmung für Spergau!“ fordern sie, denn ihr Dorf soll nach Leuna eingemeindet werden. Die Spergauer müßten also das Steuergeld der Elf Aquitaine mit Leuna teilen. So tun sie nun, als hätte ihr Dorf mit Leuna nichts, aber auch gar nichts je zu tun gehabt. Dabei liegen die kleinen grauen Häuser direkt unterhalb des Leuna-Werksgeländes. Jenseits der vier Autohändler, dem Bäcker und drei Imbißbuden ist vom Aufschwung Ost ebensowenig zu sehen wie im einen Kilometer entfernten Leuna.

An den Leunaer Werkstoren steht gut sichtbar geschrieben, womit die wenigen bezahlten Arbeitskräfte hinter der umlaufenden Betonmauer beschäftigt sind: „Hier werden im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes Industriebrachen beseitigt.“ Ein wenig riecht es noch nach Schwefel, so daß Kohls Erinnerungen einen Anknüpfungspunkt finden können: „Ich hatte das Glück, 1930 in Ludwigshafen mit dem gleichen Chemieduft in der Nase geboren zu werden“, menschelt der Kanzler der Einheit. „Was aber wäre wohl aus mir geworden, wenn ich 1930 in Leuna oder Bitterfeld zur Welt gekommen wäre?“

Daß die Ostdeutschen genauso „zupacken“ können wie die Westdeutschen, leitet Kohl „aus der Geschichte“ her: Enorm fleißig hätte die Generation seiner Eltern nach dem Krieg den Wiederaufbau begonnen. „Meine Generation konnte genausoviel leisten, denn wir sind ja ihre Kinder, und auch die jungen Leute sind stark, denn sie sind ja unsere Kinder.“

Daß das Chemiedreieck während der Zeit vor dem großen Aufräumen im Westen auch die mitteldeutsche Geschäftsleitung der IG Farben beherbergte, wen kümmert's an diesem „großartigen Tag?“ Auch Vorstandschef Schneider von der Bayer AG, einer der drei IG-Farben-Nachfolgegesellschaften, blickt lieber nach vorne: Bitterfeld, das „Tschernobyl der Chemieindustrie“, „das ostdeutsche Katastrophengebiet“, es wird zu einem „modernen Industriestandort der Zukunft“. 178 Firmen haben sich seit 1990 im „Chemiepark Bitterfeld-Wolfen“, wie das 600 Hektar große Gelände heute heißt, mit 6.750 Arbeitsplätzen angesiedelt. Einstmals waren hier 17.500 beschäftigt. Der Chemiepark, eine von öffentlichen Geldern lebende Firma, bereitet den Investoren das passende Umfeld: Strom, Gas, Druckluft, Dampf und Wasser hält der Chemiepark bereit, ein Gemeinschaftsklärwerk übernimmt die Abwässer, Service-Leistungen bis hin zu Werksfeuerwehr und Reparaturwerkstätten bietet der Park als Infrastruktur. Ein derart gut gepolstertes Nest findet sich nirgendwo sonst am Standort Deutschland.

Eigentlich nämlich wollte das Bayer-Management die Investition von insgesamt 650 Millionen Mark und geplanten 500 Arbeitsplätzen seinem Werk Uerdingen bei Düsseldorf zukommen lassen. Unter diesen Bedingungen aber pflanzte man die neuen Anlagen an den Ort mit der langen Chemietradition, wo die Menschen, wie Kohl betont, anders als im Westen noch immer „Vertrauen in die Chemie setzen“, Umweltkatastrophe hin oder her.

Noch stärker als in Leuna feiern die Westler in Bitterfeld unter sich. Lieferanten, mittlere Bayer-Manager und Journalisten drängeln sich am Büffet. „Mir wäre die Investition in Uerdingen lieber gewesen“, bekennt ein Unternehmer aus Düsseldorf, der traditionell dem Bayer-Konzern zuliefert und nun „mehr Fahrstreß“ beklagt. Die wenigen einheimischen Arbeiter der Methylzellulose-Anlage fallen zwischen den Anzugträgern auf, weil sie, Männer wie Frauen, in nagelneuen grünen Latzhosen und karierten Flanellhemden stecken. Arbeitslosigkeit in der Region? Nun ja, sie selbst hätten ja Glück gehabt, und in Bitterfeld seien alle froh, daß mit Bayer auch ein Großkonzern gekommen sei.

Rund um die Festhalle ist das riesige Chemiepark-Gelände, einst überzogen mit rostigen Rohrleitungen und alten Kesselanlagen, schon fast freigeräumt. Nur wenige Industriegebäude aus der Jahrhundertwende-Zeit, als Walther Rathenau wegen der Braunkohlevorkommen den ersten Chemiebetrieb in Bitterfeld baute, ragen fensterlos und entkernt aus den Bauschutt-Abfallhaufen. Für Rathenau waren die Standortvorteile übrigens ähnliche wie für Bayer heute: Niedriglöhne der Bitterfelder Bergleute, niedrige Bodenpreise, gute Verkehrsanbindung sowie die Möglichkeit, aus dem Umland weitere Arbeitskräfte anzulocken, nennt eine Stadtchronik.

Zum Bayer-Gelände führt heute eine nagelneue Straße, komplett mit Bürgersteigen und rotgepflasterten Radwegen. Die 12 Kilometer langen Rohrsysteme der Methylzellulose-Anlage sind blau und grün – die Bayer-Geschäftsfarben – gestrichen. Bis 1995 soll hier noch eine Anlage für Lackharze in Betrieb gehen, außerdem eine Produktion für Aspirin und Alka-Seltzer. So können auch die 5.000 Beschäftigten der zahlreichen ABM-Gesellschaften noch ihr Scherflein zum Bitterfelder Aufschwung beitragen, wenn ihnen mal wieder die Sorge um den Arbeitsplatz Kopfschmerzen bereitet.