■ Magdeburg und Halle passen gut in den Kram, um sich nicht mit der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befassen
: Planstelle Feind – zur ewigen Wiederbesetzung ausgeschrieben?

Nach Rostock und Mölln, nach Hoyerswerda und Solingen zeigt der Körper dieses Landes weitere wunde Stellen: Magdeburg und Halle. Aber es hat den Anschein, als wollte die Gesellschaft die Zeichen auf ihrem Leib nicht wahrhaben. Sie verordnet sich lokale Medikamentierung und erhöht die Dosen, wo doch die Symptome einen erweiterten psychosomatischen Blick verlangen.

Daß die Öffentlichkeit, entsetzt von den Schlägern, nachfragt, was Polizei und Justiz getan und vor allem, was sie unterlassen haben, gehört zur Hygiene. Wo aber bleibt die Politik? An ihrer Stelle eine unheimliche Superkoalition der Selbstgerechten, die urteilen und verurteilen, ohne genau hinzusehen. Philister kündigen neue Gesetze an und fordern schärfere Strafen. Politikingenieure verlangen nach chirurgischen Maßnahmen gegen die Fremdkörper. Wird auf dem politisch korrekten und moralisch cleanen Transparent „Nazis raus“ wirklich eine so andere Denkweise durch die Straßen getragen als die der angeprangerten Ausgrenzung?

Die Medien vermelden lüstern Erfolg im altbekannten Schwarzer-Peter-Spiel, in dessen zweiter Runde Rädelsführer bei den Hooligans aufgestöbert und Versager bei der Polizei gesucht werden. Und auch kritischen Kommentatoren und Analytikern fällt außer Beschwörungen des neuen Radikalismus von rechts wenig ein. Angewidert und wortreich halten wir Abstand zu jenen uns unbekannten und fremden Randale-Jugendlichen, die sich zur Menschenjagd mitten in der Stadt zusammenrotten.

Wohin man auch sieht: Feinde bauen an neuen Wechselrahmen für ihre gegenseitigen Zerrbilder. (Der US-Politologe Samuel P. Huntington in der taz vom 18. Mai: „Mir scheint, daß Muslime sich im Assimilationsprozeß als unverdaulich erwiesen haben. Das ist auch ein Thema hier mit der türkischen Minderheit.“)

Seit 1989 der schwächere Pol im Ost-West-Schisma erloschen ist, fehlt der Feind. Aber die immer noch herrschende Grammatik der Polarisierung arbeitet weiter, wenn sie nun auch wie amputiert wirkt. Gehen die Phantomschmerzen vorüber, oder wird die vakante Planstelle Feind zur Neubesetzung ausgeschrieben? Wie kann es gelingen, die polarisierende Grammatik des Freund-Feind-Denkens und der Entweder-Oder-Schemata zu überwinden? An dieser Gabelung steht unsere Gesellschaft.

Man betrachte etwa nur eine Diskussion zwischen Alt-68ern und Studierenden vor einigen Tagen in der Hamburger Universität, die ihren 75. Geburtstag feierte. Ein Student, Mitte 20, sagt zum Schluß seines durchaus reflektierten Beitrags über seine Generation, fast neidisch auf die 68er: „Uns fehlt der Feind.“ In der Tat, viele Jugendliche – und da machen Studierende keinen Unterschied – muten an wie Findelkinder. Zu einer Autodidaktik ohne Vorbild verurteilt, wirken sie wie verwaist. Politikorden, die mit ihrem halluzinierten Klassenkampf den gröbsten Bedarf an Identitätsmasken bei der Langzeitjugend in den Hochschulen gedeckt haben, sind zerfallen. Nun trauert manch einer der Möglichkeit nach, sich an verwachsenen Autoritäten zu reiben, um wenigstens entlang der Generationslinie auf der richtigen Stelle zu stehen. Der Sparringspartner aber, der zum „richtigen Standpunkt“ und zu fester Identität verhilft, der Feind eben, fehlt.

Feste Identität will nicht mehr gelingen, es sei denn als Phantom. Aber der Abschied von ihr, das wäre unsere Chance! Der Soziologe Ulrich Beck nennt dies die neuerliche „Erfindung des Politischen“, das die Welt nicht mehr in die polare Ordnung eines „ich oder du“, eines simplen „richtig– falsch“ preßt, eine Politik vielmehr, die viele unvollständige und anerkanntermaßen unvollkommene Fragmente ständig neu ausbalanciert. Keine Politik mechanisch sich ausgrenzender und zugleich leerer Politiker, sondern eine des gemischten Alltags.

Wie schwierig diese Neuerfindung des Politischen ist, zeigt sich derzeit an den mißlingenden Versuchen, den notwendigen Protest in Hochschulen und Schulen in Alternativen jenseits der Lernfabriken zu überführen.

Wenige Tage nachdem kürzlich in Hamburg 60.000 Schüler, Lehrer und Studenten gegen die angekündigte Sparpolitik auf die Straße gingen, kommen nicht mal 25 Studierende ins Audimax der Hamburger Universität zur Diskussion „Visionen für eine Universität“. Auf dem Podium Ratlosigkeit. Was soll anders werden? Wie kann eine Akademie mitten in der Lernfabrik begonnen werden? Die Sprach- und Ideenlosigkeit ist bedrückend. War der große Protest doch nur ein Strohfeuer? Jede Generation entfacht es erneut, und jede lernt die Lektion schneller: Die Hoffnung trügt, eine Demo bringe jene Reibung, aus der Energie entsteht.

Der Feind zeigte sich nicht, und irgendwie wissen es die Demonstranten inzwischen ohnehin, die im Rathaus sind nicht klüger, und sie sind auch nicht verantwortlich zu machen wie Mutti und Vati für die Erhöhung des Taschengeldes. Aus großen symbolischen Gesten („Größte Bildungsdemo aller Zeiten!“) entstehen keine Konturen mehr für die Polis. Wo sind die kleinen und phantasievollen politischen Balancierungen, in denen Politik neu erfunden wird? Der politische Raum ist beängstigend leer.

In diesem Vakuum nun befriedigt die Magdeburger Randale den Bedarf an Pseudokontur. Da werden ausflippende Autoritätsjunkies, immer noch im kalten Entzug, flink zu Rechtsradikalen umgedeutet, nur weil sie sich auf der Suche nach Prothesen dieser Politmaskerade bedienen. Mehrwert am Mummenschanz wird auf beiden Seiten der Freund-Feind-Stellungen verbucht.

Es lohnt sich in diesen Tagen, die Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Bill Buford: „Geil auf Gewalt“, zu lesen. Buford beschreibt englische Hooligans, unter die er sich einige Monate gemischt hatte. Da wird deutlich, keine Ideologie verführt diese Jugendlichen. Zur Randale treibt sie ihr ungelebtes Leben. Sie putschen sich im Kampf auf wie mit Drogen. Sie leiden an sensorischer Deprivation. Um sich zu spüren, suchen sie den allergrößten Druck. Wie Gefangene in Isolationshaft verletzen sie oder lassen sich verletzen, um sich zu vergewissern, daß sie noch am Leben sind.

„Geil auf Gewalt“ ist gewissermaßen die Ultima irratio einer fertigen Welt, in der man nicht gebraucht wird und in der es nichts zu tun gibt. Dagegen kommt keine Aufklärung an, und dagegen helfen auch keine artigen Buttons „Schluß mit dem Haß“.

Was dann?

Blicken wir zuerst in den Spie-

gel.

Die öffentlichen Räume der Städte veröden. Das neue Ideal ist die Passage, klimatisiert, sterilisiert und pasteurisiert. Kaum Kinder, kein Tier. Auf den versiegelten Flächen Begrünung in Töpfen. Der Himmel ist verglast. Die meisten Menschen dort sind Ebenbilder dieser Welt ohne Schmutz und ohne Falte. Die Amerikanerin Faith Popcorn beschreibt diesen Trend als Cocooning, Einspinnen in einen sicheren und idyllischen Kokon, Rückzug aus der Öffentlichkeit, in der sich der einzelne machtlos und fremd, ja sogar bedroht fühlt.

Auch Zeitgeist-Apologet Matthias Horx, inzwischen als selbstkonstituierter Trendforscher hoch über den Dingen schwebend, flüstert, „Cocooning“ sei die Parole der Rezessionskultur. Aber das Einspinnen einer innen komfortablen und außen unwirtlichen, ja zerstörten Welt ist doch nur die andere Seite jener dumpfen „Geil auf Gewalt“-Randale.

Noch mal, was können wir tun?

Reden wir weniger über den Haß der Skins, der Hooligans, der Nazi-Kids! Reden wir von unserem Cocooning! Nun dann werden wir etwas ausrichten. Diese Diskussion könnte erkenntnisreich werden, und von ihr werden mehr Impulse auf die aggressiven Szenen ausgehen als von all den Versuchen, die anderen aufzuklären.

Halten wir manche Ratlosigkeit aus. Lassen wir in ihrer Verpuppung eine phantasievolle Mikropolitik heranreifen. Beginnen wir zum Beispiel, aus den Trümmern der Universitäten kleine Akademien zu bauen. Machen wir aus Tausenden von dumpfen Schulen mentaler Verwahrlosung im Land Orte, die nachmittags nicht dem Hausmeister gehören, in denen man sich endlich zum Leben verabredet.

Öffentliche Orte schaffen und sie nicht vom Staat verlangen, denn selbst wenn er das Geld hätte, Lebensräume zu stiften, das kann er nicht. Es werden Mentoren gebraucht statt Besserwisser und lebenslänglich verbeamtete Lehrpersonen. In Dänemark proklamiert man bereits: Patenschaften mit Kindern und Jugendlichen.

Oder aber wir treiben unser selbstgerechtes Cocooning weiter, spinnen uns, wenn nicht mit Geld, so doch mit guten Argumenten ein im Puppenhaus, demnächst vielleicht unter Polizeischutz, während draußen die Illusion von der belebenden Wirkung des Kleinkrieges inszeniert wird. Reinhard Kahl

Publizist, lebt in Hamburg