Gemein: „Die Bakterie benimmt sich schlecht“

■ Zwar sind sich Wissenschaftler einig, daß von einer Epidemie keine Rede sein kann, aber immerhin feiert die Bakterie seit den achtziger Jahren weltweit ein Comeback

So paradox es klingt – langfristig rettet die „fleischfressende Killerbakterie“, die Großbritannien zur Zeit in Angst und Schrecken versetzt, wahrscheinlich mehr Menschen, als ihr zum Opfer fallen. Die Panik hat nämlich auch eine gute Seite: Sie führt der Londoner Regierung vor Augen, wie wichtig ein landesweites Netz von mikrobiologischen Wachposten ist. Vielleicht revidieren die Politiker ja nun ihre Pläne, die 53 staatlichen Gesundheitslaboratorien – sie wurden während des Zweiten Weltkriegs zur Überwachung der biologischen Kriegsführung der Nazis eingerichtet – zu privatisieren. Ein auf Profit ausgerichtetes Netzwerk würde sich nämlich hüten, aufwendige Untersuchungen über eine äußerst sporadisch auftretende Infektion anzustellen, nur um das Volk zu beruhigen.

Die Bakterie, um die es geht, ist eine beta-hämolytische Streptokokke der Gruppe A – eine an und für sich harmlose Sorte, die normalerweise höchstens Halsweh verursacht. Sie sitzt bei rund zehn Prozent der Menschheit im Nasenrachenraum, ohne Schaden anzurichten. Die aggressive Variante, so vermuten Wissenschaftler, ist eine Mutation, an die sich ein Virus angeklinkt hat. Dieser Virus hat womöglich seine Erbanlagen auf die Bakterie übertragen.

Das Resultat ist dramatisch: Die Bakterien vermehren sich rasant und zersetzen praktisch das Muskel- und Fettgewebe sowie die inneren Organe. Der Patient stirbt an der „Nekrotisierenden Fasciitis“ innerhalb von 24 Stunden, wenn nichts unternommen wird. Die meisten Menschen sprechen auf die entsprechenden Antibiotika jedoch gut an. Andernfalls bleibt nur die Möglichkeit, das infizierte Gewebe rigoros zu entfernen – bis hin zur Amputation. Übertragen werden kann die Infektion nur durch das Blut oder die Schleimhäute.

Neu ist das Phänomen nicht: Im 19. Jahrhundert sind reihenweise Menschen gestorben, die sich bei einfachen Operationen mit Streptokokken infiziert hatten. Dank aseptischer OPs und der Entdeckung des Penizillins galten Streptokokken vor 20 Jahren als besiegt. In den achtziger Jahren feierte die Bakterie aber weltweit ein Comeback. Das Bundesgesundheitsamt spricht von 30 bis 40 Erkrankungen im Jahr, von denen die Hälfte tödlich verläuft. Die Tendenz sei seit einigen Jahren schwach steigend. In Norwegen sind in diesem Jahr bereits 116 Fälle aufgetreten, im selben Zeitraum des Vorjahres waren es nur 50. „Das ist ein ernstes Problem“, sagte Viggo Hasseltvedt vom Osloer Gesundheitsamt. „Wir müssen mit 200 Fällen in diesem Jahr rechnen.“ Nach Norwegen wurden auch aus den anderen skandinavischen Ländern Infektionen mit mutierten Streptokokken gemeldet.

Etwas gestiegen sind die Zahlen auch in Island, Neuseeland, Belgien, den USA und Kanada. In Großbritannien sind bisher in diesem Jahr zwölf Menschen an der Infektion gestorben, üblich sind etwa zehn Todesfälle im Jahr. Gesundheitsministerin Virginia Bottomley beruhigte die Bevölkerung: „Bislang haben die Zahlen kein ungewöhnliches Ausmaß erreicht“, sagte sie im Fernsehen. „Die Infektion ist immer noch äußerst selten.“

Warum machen die Bakterien dann seit ein paar Wochen Schlagzeilen? Zum erstenmal wurden die britischen Medien aufmerksam, als im Februar zwei Patienten aus demselben Dorf in Gloucestershire nach Routineoperationen im Krankenhaus von Stroud erkrankten und der Operationssaal daraufhin geschlossen wurde. Die Häufung der Streptokokken-Infektionen in Gloucestershire – in diesem Jahr wurden sieben Fälle gezählt – ist denn auch ein Phänomen, das die Wissenschaftler beschäftigt. Die Gesundheitsämter haben eine mikrobiologische und epidemiologische Untersuchung eingeleitet, doch mit einem Ergebnis ist vorerst nicht zu rechnen. Einig sind sich die Wissenschaftler, daß von einer Epidemie keine Rede sein kann. Die Zahl der Fälle sei nicht höher, als man erwarten könne, sagt auch Geoff Ridgway, ein Londoner Mikrobiologe. „Die Bakterie benimmt sich schlecht, sie ist viel bösartiger als sonst, aber es gibt keinen Hinweis darauf, daß sie resistent gegen Antibiotika geworden ist.“

Freilich sind Antibiotika kein Allheilmittel. Es gibt rund hundert verschiedene Arten von Antibiotika. Doch Bakterien übertragen ihre Erbanlagen, die DNS, mit erstaunlicher Geschwindigkeit. „Erst in den vergangenen 15 Jahren ist der kolossale Umfang des genetischen Austausches zwischen Bakterien deutlich geworden“, sagt Bernard Dixon von der Zeitschrift Bio-Technology. „Teile der DNS übermitteln oft nicht nur die Resistenz gegen ein Antibiotikum, sondern gegen ein Dutzend.“

Wenn es eine Bakterien-Mutation schafft, sich gegen jede chemotherapeutische Behandlung zu immunisieren, ist Panik wohl tatsächlich angebracht. Es gibt Wissenschaftler, die davon ausgehen, daß dieser Tag gar nicht mehr fern sei. Ralf Sotscheck