„Killerbakterien“: Ein gefundenes Fressen

Die Streptokokken aus der englischen Grafschaft mutieren zum neuen Medienstar. Horrorschlagzeilen schüren Urängste des Menschen vor heimtückischen Krankheiten. Eine neue Runde im alten Kampf zwischen Mensch und Mikrobe? Wissenschaftler warnen vor hysterischen Reaktionen.

„Jeden Tag war sonst ein Fest;

Und was jetzt? Pest, die Pest!

Nur ein großes Leichennest,

das ist der Rest!“

(Ein Vers des Volkssängers

Augustin aus dem 17. Jahrhundert)

Was können sich Boulevard-Journalisten Schöneres wünschen als diesen Stoff: „Wildgewordene“, womöglich mutierte Bakterien breiten sich in einer englischen Grafschaft aus, sie „fressen“ sich in rasender Geschwindigkeit durch menschliches Gewebe, ihre Opfer sterben innerhalb kürzester Frist. Die Ärzte stehen hilflos davor und sprechen von einer rätselhaften „Killermikrobe“. Das Publikum schwankt zwischen Panik und Hysterie. Da lacht der Chefredakteur, und den Mann für die Headline schaudert's wohlig.

Kleine Kostprobe gefällig? „Sie sind unsichtbar und fressen Menschen auf“, dichtet Bild und diagnostiziert die „Medizinkatastrophe“ durch „wilde Bakterien“. Kurz und heftig titelt der Daily Mirror: „Lebendig aufgefressen“, Unterzeile: „Betroffene Mutter war fünf Tage in der Hölle“. „Killerbakterien greifen auch London an“, funkt die BZ aus sicherem Bunker. Und selbst der verschnarchte Tagesspiegel entdeckt donnernd die „Angst vor der mysteriösen Horrorinfektion“. Keine Frage: Die Streptokokken-Infektion in Großbritannien ist das Lieblingsthema der Zunft. Sie bietet alles, was ein guter Stoff bieten muß: Angst, Krankheit, Tod, Mysterium. Selbst der Sex kommt nicht zu kurz, wenn berichtet werden darf, daß sich das Bakterium bei einem der Patienten bis zum Allerheiligsten durchwühlte und die Ärzte deshalb schon die Amputation des Penis ins Auge faßten.

Medienwirksam ist auch die Todesarithmetik. Täglich scheint die Zahl der Opfer mit fast naturgesetzlicher Regelmäßigkeit zu wachsen. Es werden immer mehr, wird suggeriert, und irgendwann sind wir dran. Zahlen sind ohnehin immer gut, Haltepunkte aus der exakten mathematischen Welt in einer immer weniger faßbaren rätselhaften Realität. Schon bei den durch ganz Europa vagabundierenden Dioxinfässern oder den Atommüllfässern aus dem Hanauer Sumpf lebte der Skandal von der Dynamik der Zahlen. Auch die vor vier Jahren durch ein angeblich mysteriöses Virus hingerafften Robben an deutschen Nordseegestaden vermehrten sich täglich und hielten so die Spannung hoch – und das Publikum auf Trab. Wir dürfen also auf täglich neue Zahlen von der Mikrobenfront gefaßt sein.

Zugleich lassen sich mit der Killermikrobe alte Seuchenängste aktualisieren. Die Schwarze Pest war jahrhundertelang der Inbegriff des Schreckens. Mit dem Ausbruch von Aids, der gerne auch als „Schwulenpest“ apostrophierten Krankheit, ist die Seuche in unseren Sprachschatz und in unser Leben zurückgekehrt. Und mit ihr ist die Urangst des Menschen vor heimtückischen Krankheiten neu erwacht. Wer jetzt die Berichte über die Streptokokken-Infektionen liest, fühlt sich zwangsläufig an die Pest erinnert: „Auf meinem Bauch breiteten sich große dunkle Flecken aus. Sie wurden immer größer, verwandelten sich in schwarzes totes Fleisch“, wird ein Opfer zitiert. Was ist hier Wirklichkeit, was Seuchenmetaphorik?

Nüchtern betrachtet gibt es eigentlich wenig Anlaß für die ganze Aufregung. Das Streptokokken- Bakterium ist ein alter Bekannter in unserer Infektionswelt. Bekannt ist auch, daß die Infektiosität dieser Mikrobe im Laufe von Jahren und Jahrzehnten immer wieder Schwankungen ausgesetzt ist. Die Häufung der Todesfälle in England wäre mit dieser natürlichen Schwankungsbreite plausibel erklärbar. Auch in der Bundesrepublik sterben jährlich 30 bis 40 Menschen an Streptokokken-Infektionen. Warum also die Hysterie? Neben der oben zitierten Medienlust an Seuchen, Tod und Katastrophen gibt es einen durchaus realen Gehalt für unsere Ängste.

Bakterien, die primitivsten Organismen auf der Erde, sind evolutionäre Wesen. Sie verändern sich und ihre Eigenschaften durch Mutationen. Das ist eine ebenso banale wie alarmierende Feststellung. Das bedeutet, daß sich unser Verhältnis zu den Mikroben keinesfalls im Gleichgewicht befindet, sondern einem kontinuierlichen Prozeß ausgesetzt ist. Wir können also keinesfalls sicher sein, daß Bakterien, die wir heute relativ gut unter Kontrolle haben, auch morgen noch dieselben relativ harmlosen Erreger sind. Diese „wacklige“ Konstellation ist immer wieder Anlaß für – berechtigte – Besorgnis. Hinzu kommt, daß sich die Infektionswelt stark verändert hat. Durch die ungeheure Mobilität sind die Erreger nicht mehr lokal oder regional eingrenzbar. Sie sind überall: heute in einer englischen Grafschaft und morgen in Berlin, Hamburg und Hinterholzhausen.

Bakterien wollen (über)leben. So wie der Darwinsche Mechanismus die Gazelle durch harte Auslese auf Geschwindigkeit trimmte, um den Zähnen des Löwen zu entkommen, so wird auch das Bakterium durch Auslese und Mutation zum Überleben tauglich gemacht. In den beiden letzten Jahrzehnten hat die Mikrobe vor allem eines gelernt: den Kampf gegen die Antibiotika. Dies ist gegenwärtig das gewaltigste Problem in der Abwehr von Infektionskrankheiten: Immer mehr Bakterienstämme sind gegen die Arzneimittel des Menschen resistent geworden.

Allein in US-Krankenhäusern starben im Jahr 1992 13.300 Patienten an bakteriellen Infektionen, bei denen die Antibiotika versagten. Mit zunehmender Resistenz sind auch in die reichen Länder fast vergessene Krankheiten wie die Tuberkulose zurückgekehrt. In New York, dem Zentrum der TB- Epidemie der USA, ist bei jedem fünften Patienten der Erreger gegen die beiden wichtigsten und wirksamsten Antibiotika immun.

In Ländern wie Spanien und Ungarn mit ihrem hohen Antibiotika-Mißbrauch sind Streptokokken in hohem Maße gegen Penizillin resistent geworden. In den armen Ländern wird die Malaria-Bekämpfung immer schwieriger, weil das erprobte Medikament Chloroquin in 90 Prozent aller Fälle unwirksam ist und das Nachfolge- Präparat Mefloquin ebenfalls Resistenzraten von 20 Prozent zeigt. In der Bundesrepublik sind vor allem multiresistente Staphilokokken ein großes Problem. Unter dem Dauerbeschuß von Desinfektionsmitteln und chemischen Keulen haben sie das Überleben gelernt. Im Vergleich zu diesen gewaltigen Resistenzproblemen sind die Killer-Streptokokken aus Großbritannien vermutlich geradezu harmlos. Aber sie illustrieren eindrucksvoll die Instabilität im uralten Kampf zwischen Mensch und Mikrobe. Manfred Kriener