...mit allem, was dazugehört

■ Die BewohnerInnen lieben ihr St. Georg – ein Stimmungsbericht aus dem 800 Jahre alten Quartier hinter dem Hauptbahnhof Von Andrea Hösch

ie Schulenburgs betreiben einen kleinen Tante-Emma-Laden zwischen Außenalster, Hauptbahnhof und dem Berliner Tor. Der klassische Kaufladen liegt in einer recht ruhigen Ecke im Viertel, am unteren Ende der Koppel. Er ist übriggeblieben. Seit vierzig Jahren steht das Ehepaar zu Diensten. Offene Milch gab's hier lange, bevor es in den Supermärkten Mode wurde. Lebensgefühl? In St. Georg? Beide sind ganz verdutzt, als sie davon erzählen sollen. Das kommt schließlich nicht alle Tage vor. Eins mit Schinken und eins mit Gouda – das sind bekannte Töne bekannter Kunden. Aber das mit dem Lebensgefühl?

Da fällt Frau Schulenburg dieser Artikel mit den vielen bunten Bildern in der Lebensmittel-Zeitung ein: „Da steht alles drin, was mein Mann und ich zu sagen haben“, sagt die Geschäftsfrau. „Es kann ja nicht jeder in Blankenese leben, würd' ich auch gar nicht wollen, da ist ja nichts los. Nein, mein Mann und ich, wir wollen hier nicht weg – nicht wahr, Heinz?“

Dann reicht sie das Blatt über die Theke. In dem Artikel ist erstaunlicherweise nur am Rande die Rede von Drogen, Prostitution und Kriminalität. Das Viertel schillert reizvoll, schräg und farbig: „Hier wurde die Vielfalt erfunden.“ Genau das ist es, was die Bewohner an ihrem Stadtteil lieben: die lebendige, bunte Mischung.

„So schlimm, wie St. Georg zum Teil in den Medien dargestellt wird, hab' ich das nie empfunden“, sagt Rolf von der Fahrradwerkstatt in der Schmilinskystraße. Als er vor vielen Jahren nach St. Georg zog, hatte er den Eindruck, daß viele kommen und schon bald wieder gehen. Das hat sich geändert: Die meisten bleiben.

Dazu gehören auch die rund 80 Erwachsenen und 25 Kinder der Wohngenossenschaft „Drachenbau“. Der Hausmeister Herbert erzählt, wie alles anfing: „Vor etwa 15 Jahren haben sich ein paar Freunde zusammengetan und ein Haus gesucht. Damals gab es im Vergleich zu heute noch ein paar mehr, die leerstanden. Zwei haben wir gekauft und zwei neu gebaut.“ Der Rundgang durchs Gelände endet oben auf dem begrünten Dach. Herbert blickt rundum über die Dächer: „Das hier ist wie eine Oase mittendrin.“

Daß Fremde über ihr Viertel die Nase rümpfen, können die St. Georgier zwar verstehen, sie selbst aber haben mit dem Strich und den Junkies leben gelernt. Bis auf die älteren Bewohner – die tun sich schwer, die Veränderungen zu verdauen und empfinden das Leben im Viertel manchmal als bedrohlich. „Ich geh' abends nicht mehr raus auf die Straße“, erzählt eine grauhaarige Frau, die auf dem Markt einkauft. Sie lebt seit 32 Jahren hinter dem Hauptbahnhof und weiß, wie sich das Viertel verändert hat. „Früher, da gab es überall kleine Geschäfte, aber die können die Mieten nicht mehr bezahlen. Jetzt hat gerade der letzte Metzger zugemacht. Und die vielen Ausländer hier...“ Mit diesen Worten verabschiedet sie sich abrupt, sie müsse noch schnell was einkaufen.

Einen Steinwurf weit weg von den exklusiven Nobelhotels einerseits und dem Babystrich andererseits liegt der Hansaplatz, den ein paar biertrinkende Männergruppen bevölkern. Was auf dem Platz Tag für Tag abgeht, kann keiner besser beobachten als Klaus Runge, der hier ein Elektro-Geschäft betreibt. Er kennt die Leute vom Platz fast so gut wie seine eigenen Kunden. Manchmal geht es ihm ganz schön an die Nieren, wenn er sieht, wie junge Mädchen innerhalb von vier oder sechs Wochen runterkommen und halb tot über dem Geländer hängen. Richtig wütend macht ihn, mitansehen zu müssen, daß es Freier gibt, die diese Mädchen auch noch mitnehmen. Kürzlich war er nebenan im Café Sperrgebiet, „wo sich die Mädchen wenigstens mal waschen und ein bißchen aufwärmen können“, erzählt Runge. Bevor der robust gebaute Handwerker weiterreden kann, schluckt er kurz. Leise sagt er dann: „Mir sind fast die Tränen gekommen, als die mir erzählten, was die alles mitmachen.“

Trotzdem hat Runge noch keinen Gedanken daran verschwendet, von dem Ort, wo er schon als Kind gespielt hat, wegzugehen. Nur am Wochenende. Da fährt er mit seiner Familie raus aufs Land.

Kai vom Schwulencafé Gnosa in der Langen Reihe überlegt, was das eigentlich Typische an St. Georg ist. „Das Viertel hat Flair, eine bestimmte Atmosphäre, was Buntes, Lebendiges.“ Die Stadtteilidentität genauer zu fassen, will ihm nicht gelingen. „Es wäre doch langweilig, wenn alles uniformiert wäre, auch bei uns im Café. Gerade die Mischung macht's, daß hier Schwule, aber auch Heteros, Frauen, alte Stammgäste und auch Leute vom Schauspielhaus reinkommen“, sagt Kai und freut sich über den Gedanken, daß „das Café so gesehen ein Spiegel fürs ganze Viertel ist.“

Ein Viertel, in dem sich die Menschen kennen und grüßen, leben und leben lassen. Rolf von der Fahrradwerkstatt freut sich auf die Festwoche. „Das wird nicht so ablaufen wie die vielen kommerziellen Straßenfeste in Hamburg, weil wir damit was wollen“, sagt er. Deshalb sei die Geburtstagsfeier gut und nützlich für die Identifikation mit dem Stadtteil und für das kleinstädtische Milieu.

Daß St. Georg so bleibt, wie es ist, wünscht sich auch einer, der Tag für Tag Tausende von Menschen an sich vorbeiziehen sieht. Er trägt Schnauzer und Uniform. Viele Jahre ist er zur See gefahren, danach saß er lange Zeit am Steuer von Lastwagen. Heute öffnet er Türen und empfängt Gäste. Der Weitgereiste ist Portier im Hotel Atlantic. Sein vornehmes Auftreten hindert den Mann aber keineswegs daran kundzutun, daß er sich im Viertel „sauwohl“ fühlt. „Ich weiß, daß viele Leute auf St. Georg runterschauen, als wär's der Abschaum, eine einzige Hölle von Mord und Totschlag,“ erzählt der Portier.

Eine kurze Weile verzieht er die Mundwinkel, als wolle er sich den Nachsatz verkneifen. Da ist er aber schon raus: „Diese Leute, das sind die eigentlichen Spießer.“